Ich näherte mich nun der kleinen Hütte, in welche die Alte schon eingetreten war, mit banger Erwartung, mit tiefer Ehrfurcht; ich öfnete leise die Stubenthüre, und überblickte die Wohnung des Jammers mit Schaudern. In der armseligen Wohnung stand kein Tisch, kein Stuhl, nur am Ofen eine kleine hölzerne Bank, und im Hinter- grunde ein Bette, das mit zerrißnen, aber doch saubern Vorhängen umgeben war. Die Alte stand am Bette, zog die etwas geöfneten Vorhänge wie- der zu, und schlich auf den Zehen nach dem Fen- ster. Im Gehen erblickte sie mich, sie legte den Finger auf den Mund, und rief mir leise zu: sie schläft! sie schläft!
Die Alte. (freundlich) Sie wollen ge- wiß meine Tochter sehen?
Ich. Nicht aus Neugierde, aus wahrer inne- rer Theilnahme!
Die Alte. Sie schläft, aber das hindert's nicht, kommen Sie nur leise herbei. Sie werden ein schönes, aber leider ein wahnsinniges Mäd- chen sehen.
Sie zog nun den Vorhang sachte hinweg, ich näherte mich zitternd. Eine weiße, schöne Schlaf- haube, die mit einem breiten, blaßrothen Bande umwunden war, verkündigte mir deutlich, daß die arme Mutter vielleicht manchen Kreuzer er- betteln mußte, ehe sie das geliebte Kind mit die- sem kleinen Putze erfreuen konnte. Thränen füll- ten mein Auge, ich konnte nichts sehen, die Un-
Erst. Bändch. O
Ich naͤherte mich nun der kleinen Huͤtte, in welche die Alte ſchon eingetreten war, mit banger Erwartung, mit tiefer Ehrfurcht; ich oͤfnete leiſe die Stubenthuͤre, und uͤberblickte die Wohnung des Jammers mit Schaudern. In der armſeligen Wohnung ſtand kein Tiſch, kein Stuhl, nur am Ofen eine kleine hoͤlzerne Bank, und im Hinter- grunde ein Bette, das mit zerrißnen, aber doch ſaubern Vorhaͤngen umgeben war. Die Alte ſtand am Bette, zog die etwas geoͤfneten Vorhaͤnge wie- der zu, und ſchlich auf den Zehen nach dem Fen- ſter. Im Gehen erblickte ſie mich, ſie legte den Finger auf den Mund, und rief mir leiſe zu: ſie ſchlaͤft! ſie ſchlaͤft!
Die Alte. (freundlich) Sie wollen ge- wiß meine Tochter ſehen?
Ich. Nicht aus Neugierde, aus wahrer inne- rer Theilnahme!
Die Alte. Sie ſchlaͤft, aber das hindert's nicht, kommen Sie nur leiſe herbei. Sie werden ein ſchoͤnes, aber leider ein wahnſinniges Maͤd- chen ſehen.
Sie zog nun den Vorhang ſachte hinweg, ich naͤherte mich zitternd. Eine weiße, ſchoͤne Schlaf- haube, die mit einem breiten, blaßrothen Bande umwunden war, verkuͤndigte mir deutlich, daß die arme Mutter vielleicht manchen Kreuzer er- betteln mußte, ehe ſie das geliebte Kind mit die- ſem kleinen Putze erfreuen konnte. Thraͤnen fuͤll- ten mein Auge, ich konnte nichts ſehen, die Un-
Erſt. Baͤndch. O
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Ich naͤherte mich nun der kleinen Huͤtte, in
welche die Alte ſchon eingetreten war, mit banger
Erwartung, mit tiefer Ehrfurcht; ich oͤfnete leiſe
die Stubenthuͤre, und uͤberblickte die Wohnung des
Jammers mit Schaudern. In der armſeligen
Wohnung ſtand kein Tiſch, kein Stuhl, nur am
Ofen eine kleine hoͤlzerne Bank, und im Hinter-
grunde ein Bette, das mit zerrißnen, aber doch
ſaubern Vorhaͤngen umgeben war. Die Alte ſtand
am Bette, zog die etwas geoͤfneten Vorhaͤnge wie-
der zu, und ſchlich auf den Zehen nach dem Fen-
ſter. Im Gehen erblickte ſie mich, ſie legte den
Finger auf den Mund, und rief mir leiſe zu: ſie
ſchlaͤft! ſie ſchlaͤft!
Die Alte. (freundlich) Sie wollen ge-
wiß meine Tochter ſehen?
Ich. Nicht aus Neugierde, aus wahrer inne-
rer Theilnahme!
Die Alte. Sie ſchlaͤft, aber das hindert's
nicht, kommen Sie nur leiſe herbei. Sie werden
ein ſchoͤnes, aber leider ein wahnſinniges Maͤd-
chen ſehen.
Sie zog nun den Vorhang ſachte hinweg, ich
naͤherte mich zitternd. Eine weiße, ſchoͤne Schlaf-
haube, die mit einem breiten, blaßrothen Bande
umwunden war, verkuͤndigte mir deutlich, daß
die arme Mutter vielleicht manchen Kreuzer er-
betteln mußte, ehe ſie das geliebte Kind mit die-
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ten mein Auge, ich konnte nichts ſehen, die Un-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/215>, abgerufen am 19.02.2025.
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