reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut- ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie könnt ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Essen, und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange, aber wenn ich gar keine Hülfe mehr sehe, dann muß ich zur Schärfe schreiten. -- --
Ich schwieg lange, ich konnte nicht mehr fra- gen, das unverdiente Leiden der Unglücklichen preßte mein Herz zu stark. Ich versetzte mich in ihren Zustand, dachte mir ihre Lage und fühlte sie schrecklich. Ewig von schwarzen Bildern und Träumen, die ihre überspannte Einbildungskraft sich täglich neu schaft, gequält und gemartert, überall von dem blutenden Geliebten ihres Her- zens begleitet, immer mit seiner schrecklichen Er- scheinung geängstiget, stets Trost suchend, und ihn selbst im Tempel des Ewigen nicht findend! Gepeitscht von einem Bruder, dem sie alles, was sie besaß, freiwillig opferte! O es muß ein schreckliches Gefühl seyn! Es kann kein un- glücklicheres Geschöpf auf dieser Welt umher wal- len! Ich blickte nach ihr hin, sie saß ruhig und sorglos da, schien von allem, was ihre Mutter erzählt hatte, nicht das geringste gehört zu ha- ben, sie betete noch immer, wenigstens verriethen es ihre Lippen, die sich unaufhörlich bewegten, indeß ihr Auge in die ferne Gegend starrte, und oft freundlich lächelte.
reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut- ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Eſſen, und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange, aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr ſehe, dann muß ich zur Schaͤrfe ſchreiten. — —
Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra- gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen preßte mein Herz zu ſtark. Ich verſetzte mich in ihren Zuſtand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte ſie ſchrecklich. Ewig von ſchwarzen Bildern und Traͤumen, die ihre uͤberſpannte Einbildungskraft ſich taͤglich neu ſchaft, gequaͤlt und gemartert, uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her- zens begleitet, immer mit ſeiner ſchrecklichen Er- ſcheinung geaͤngſtiget, ſtets Troſt ſuchend, und ihn ſelbſt im Tempel des Ewigen nicht findend! Gepeitſcht von einem Bruder, dem ſie alles, was ſie beſaß, freiwillig opferte! O es muß ein ſchreckliches Gefuͤhl ſeyn! Es kann kein un- gluͤcklicheres Geſchoͤpf auf dieſer Welt umher wal- len! Ich blickte nach ihr hin, ſie ſaß ruhig und ſorglos da, ſchien von allem, was ihre Mutter erzaͤhlt hatte, nicht das geringſte gehoͤrt zu ha- ben, ſie betete noch immer, wenigſtens verriethen es ihre Lippen, die ſich unaufhoͤrlich bewegten, indeß ihr Auge in die ferne Gegend ſtarrte, und oft freundlich laͤchelte.
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reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut-
ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt
ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Eſſen,
und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn
ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange,
aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr ſehe, dann
muß ich zur Schaͤrfe ſchreiten. — —
Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra-
gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen
preßte mein Herz zu ſtark. Ich verſetzte mich in
ihren Zuſtand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte
ſie ſchrecklich. Ewig von ſchwarzen Bildern und
Traͤumen, die ihre uͤberſpannte Einbildungskraft
ſich taͤglich neu ſchaft, gequaͤlt und gemartert,
uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her-
zens begleitet, immer mit ſeiner ſchrecklichen Er-
ſcheinung geaͤngſtiget, ſtets Troſt ſuchend, und
ihn ſelbſt im Tempel des Ewigen nicht findend!
Gepeitſcht von einem Bruder, dem ſie alles,
was ſie beſaß, freiwillig opferte! O es muß
ein ſchreckliches Gefuͤhl ſeyn! Es kann kein un-
gluͤcklicheres Geſchoͤpf auf dieſer Welt umher wal-
len! Ich blickte nach ihr hin, ſie ſaß ruhig und
ſorglos da, ſchien von allem, was ihre Mutter
erzaͤhlt hatte, nicht das geringſte gehoͤrt zu ha-
ben, ſie betete noch immer, wenigſtens verriethen
es ihre Lippen, die ſich unaufhoͤrlich bewegten,
indeß ihr Auge in die ferne Gegend ſtarrte, und
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/37>, abgerufen am 27.07.2024.
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