Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut- Ich schwieg lange, ich konnte nicht mehr fra- reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut- Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0037" n="23"/> reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut-<lb/> ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt<lb/> ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Eſſen,<lb/> und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn<lb/> ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange,<lb/> aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr ſehe, dann<lb/> muß ich zur Schaͤrfe ſchreiten. — —</p><lb/> <p>Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra-<lb/> gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen<lb/> preßte mein Herz zu ſtark. Ich verſetzte mich in<lb/> ihren Zuſtand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte<lb/> ſie ſchrecklich. Ewig von ſchwarzen Bildern und<lb/> Traͤumen, die ihre uͤberſpannte Einbildungskraft<lb/> ſich taͤglich neu ſchaft, gequaͤlt und gemartert,<lb/> uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her-<lb/> zens begleitet, immer mit ſeiner ſchrecklichen Er-<lb/> ſcheinung geaͤngſtiget, ſtets Troſt ſuchend, und<lb/> ihn ſelbſt im Tempel des Ewigen nicht findend!<lb/> Gepeitſcht von einem Bruder, dem ſie alles,<lb/> was ſie beſaß, freiwillig opferte! O es muß<lb/> ein ſchreckliches Gefuͤhl ſeyn! Es kann kein un-<lb/> gluͤcklicheres Geſchoͤpf auf dieſer Welt umher wal-<lb/> len! Ich blickte nach ihr hin, ſie ſaß ruhig und<lb/> ſorglos da, ſchien von allem, was ihre Mutter<lb/> erzaͤhlt hatte, nicht das geringſte gehoͤrt zu ha-<lb/> ben, ſie betete noch immer, wenigſtens verriethen<lb/> es ihre Lippen, die ſich unaufhoͤrlich bewegten,<lb/> indeß ihr Auge in die ferne Gegend ſtarrte, und<lb/> oft freundlich laͤchelte.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [23/0037]
reißt endlich die Geduld. Sie fragt nicht: Mut-
ter! Wo nehmt ihr's Brod her? Wie koͤnnt
ihr's verdienen? Sie fordert ihr richtiges Eſſen,
und zankt wohl noch obendrein mit mir, wenn
ich's aus Noth knapp zurichte. Ich dulde lange,
aber wenn ich gar keine Huͤlfe mehr ſehe, dann
muß ich zur Schaͤrfe ſchreiten. — —
Ich ſchwieg lange, ich konnte nicht mehr fra-
gen, das unverdiente Leiden der Ungluͤcklichen
preßte mein Herz zu ſtark. Ich verſetzte mich in
ihren Zuſtand, dachte mir ihre Lage und fuͤhlte
ſie ſchrecklich. Ewig von ſchwarzen Bildern und
Traͤumen, die ihre uͤberſpannte Einbildungskraft
ſich taͤglich neu ſchaft, gequaͤlt und gemartert,
uͤberall von dem blutenden Geliebten ihres Her-
zens begleitet, immer mit ſeiner ſchrecklichen Er-
ſcheinung geaͤngſtiget, ſtets Troſt ſuchend, und
ihn ſelbſt im Tempel des Ewigen nicht findend!
Gepeitſcht von einem Bruder, dem ſie alles,
was ſie beſaß, freiwillig opferte! O es muß
ein ſchreckliches Gefuͤhl ſeyn! Es kann kein un-
gluͤcklicheres Geſchoͤpf auf dieſer Welt umher wal-
len! Ich blickte nach ihr hin, ſie ſaß ruhig und
ſorglos da, ſchien von allem, was ihre Mutter
erzaͤhlt hatte, nicht das geringſte gehoͤrt zu ha-
ben, ſie betete noch immer, wenigſtens verriethen
es ihre Lippen, die ſich unaufhoͤrlich bewegten,
indeß ihr Auge in die ferne Gegend ſtarrte, und
oft freundlich laͤchelte.
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