Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

chen ein anderes Mädchen wähle. Er gelobte
beim Abschiede, ihr stets zu schreiben, er
erfüllte sein Gelübde nie, beantwortete kei-
nen ihrer Briefe, in welchen sie ihm in der
Folge ihren unglücklichen Zustand entdeckte,
und vergebens um Mitleid und Hülfe flehte.

Die betrogne Unglückliche konnte ihn nicht
vergessen, das Pfand seiner treulosen Liebe
ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor-
gen ahndete sie Entdeckung, und mit dieser
das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung
aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut-
ter, welche am leichtesten ihren Zustand arg-
wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuerst.
Sie sprach tröstend mit der Leidenden, zeigte
ihr Wege und Mittel, wie sie der drohen-
den
Schande ausweichen könne, und wollte
sie eben unter einem erdichteten Vorwande
zu einer entfernten Anverwandtin senden, als
der Vater unverhoft heimkehrte.


Ein

chen ein anderes Maͤdchen waͤhle. Er gelobte
beim Abſchiede, ihr ſtets zu ſchreiben, er
erfuͤllte ſein Geluͤbde nie, beantwortete kei-
nen ihrer Briefe, in welchen ſie ihm in der
Folge ihren ungluͤcklichen Zuſtand entdeckte,
und vergebens um Mitleid und Huͤlfe flehte.

Die betrogne Ungluͤckliche konnte ihn nicht
vergeſſen, das Pfand ſeiner treuloſen Liebe
ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor-
gen ahndete ſie Entdeckung, und mit dieſer
das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung
aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut-
ter, welche am leichteſten ihren Zuſtand arg-
wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuerſt.
Sie ſprach troͤſtend mit der Leidenden, zeigte
ihr Wege und Mittel, wie ſie der drohen-
den
Schande ausweichen koͤnne, und wollte
ſie eben unter einem erdichteten Vorwande
zu einer entfernten Anverwandtin ſenden, als
der Vater unverhoft heimkehrte.


Ein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0206" n="192"/>
chen ein anderes Ma&#x0364;dchen wa&#x0364;hle. Er gelobte<lb/>
beim Ab&#x017F;chiede, ihr &#x017F;tets zu &#x017F;chreiben, er<lb/>
erfu&#x0364;llte &#x017F;ein Gelu&#x0364;bde nie, beantwortete kei-<lb/>
nen ihrer Briefe, in welchen &#x017F;ie ihm in der<lb/>
Folge ihren unglu&#x0364;cklichen Zu&#x017F;tand entdeckte,<lb/>
und vergebens um Mitleid und Hu&#x0364;lfe flehte.</p><lb/>
        <p>Die betrogne Unglu&#x0364;ckliche konnte ihn nicht<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en, das Pfand &#x017F;einer treulo&#x017F;en Liebe<lb/>
ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor-<lb/>
gen ahndete &#x017F;ie Entdeckung, und mit die&#x017F;er<lb/>
das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung<lb/>
aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut-<lb/>
ter, welche am leichte&#x017F;ten ihren Zu&#x017F;tand arg-<lb/>
wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuer&#x017F;t.<lb/>
Sie &#x017F;prach tro&#x0364;&#x017F;tend mit der Leidenden, zeigte<lb/>
ihr Wege und Mittel, wie &#x017F;ie der <choice><sic>drohen-<lb/>
deu</sic><corr>drohen-<lb/>
den</corr></choice> Schande ausweichen ko&#x0364;nne, und wollte<lb/>
&#x017F;ie eben unter einem erdichteten Vorwande<lb/>
zu einer entfernten Anverwandtin &#x017F;enden, als<lb/>
der Vater unverhoft heimkehrte.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0206] chen ein anderes Maͤdchen waͤhle. Er gelobte beim Abſchiede, ihr ſtets zu ſchreiben, er erfuͤllte ſein Geluͤbde nie, beantwortete kei- nen ihrer Briefe, in welchen ſie ihm in der Folge ihren ungluͤcklichen Zuſtand entdeckte, und vergebens um Mitleid und Huͤlfe flehte. Die betrogne Ungluͤckliche konnte ihn nicht vergeſſen, das Pfand ſeiner treuloſen Liebe ruhte unter ihrem Herzen, mit jedem Mor- gen ahndete ſie Entdeckung, und mit dieſer das Ende ihres guten Rufs, die Verachtung aller Redlichen des Dorfs. Ihre Stiefmut- ter, welche am leichteſten ihren Zuſtand arg- wohnen konnte, entdeckte ihn auch zuerſt. Sie ſprach troͤſtend mit der Leidenden, zeigte ihr Wege und Mittel, wie ſie der drohen- den Schande ausweichen koͤnne, und wollte ſie eben unter einem erdichteten Vorwande zu einer entfernten Anverwandtin ſenden, als der Vater unverhoft heimkehrte. Ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/206
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/206>, abgerufen am 29.11.2024.