die schrecklichste Art. Keiner der vielen Dorf- bewohner wollte Pathe des Kindes werden, ie- der entschuldigte sich mit kränkendem Spotte, nur mit vieler Mühe beredete man einen ar- men Taglöhner, diese nothwendige Pflicht zu erfüllen. Auch dieser war hart genug, wie er das Kind auf seine Arme nahm, in Gegenwart der leidenden Mutter zu sprechen: Komm, ar- mes Würmchen, komm! Da wir dir deinen ehrlichen Namen nicht geben können, so wollen wir wenigstens einen Christen aus dir machen!
Diese hartherzige Rede füllte Mariens Herz mit unaussprechlichem Jammer. Ihre Stiefmutter räumte, als alle weggegangen wa- ren, eben das Zimmer auf. Die trostlose Ma- rie sprach hart mit ihr, und bewies -- was sie noch nie gethan hatte -- mit unumstößlichen Gründen, daß sie ihr allein dies Unglück, diesen Jammer zu danken habe, nie gefallen sein wür- de, wenn sie ihren Fall nicht vorbereitet hätte.
die ſchrecklichſte Art. Keiner der vielen Dorf- bewohner wollte Pathe des Kindes werden, ie- der entſchuldigte ſich mit kraͤnkendem Spotte, nur mit vieler Muͤhe beredete man einen ar- men Tagloͤhner, dieſe nothwendige Pflicht zu erfuͤllen. Auch dieſer war hart genug, wie er das Kind auf ſeine Arme nahm, in Gegenwart der leidenden Mutter zu ſprechen: Komm, ar- mes Wuͤrmchen, komm! Da wir dir deinen ehrlichen Namen nicht geben koͤnnen, ſo wollen wir wenigſtens einen Chriſten aus dir machen!
Dieſe hartherzige Rede fuͤllte Mariens Herz mit unausſprechlichem Jammer. Ihre Stiefmutter raͤumte, als alle weggegangen wa- ren, eben das Zimmer auf. Die troſtloſe Ma- rie ſprach hart mit ihr, und bewies — was ſie noch nie gethan hatte — mit unumſtoͤßlichen Gruͤnden, daß ſie ihr allein dies Ungluͤck, dieſen Jammer zu danken habe, nie gefallen ſein wuͤr- de, wenn ſie ihren Fall nicht vorbereitet haͤtte.
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[212[196]/0210]
die ſchrecklichſte Art. Keiner der vielen Dorf-
bewohner wollte Pathe des Kindes werden, ie-
der entſchuldigte ſich mit kraͤnkendem Spotte,
nur mit vieler Muͤhe beredete man einen ar-
men Tagloͤhner, dieſe nothwendige Pflicht zu
erfuͤllen. Auch dieſer war hart genug, wie er
das Kind auf ſeine Arme nahm, in Gegenwart
der leidenden Mutter zu ſprechen: Komm, ar-
mes Wuͤrmchen, komm! Da wir dir deinen
ehrlichen Namen nicht geben koͤnnen, ſo wollen
wir wenigſtens einen Chriſten aus dir machen!
Dieſe hartherzige Rede fuͤllte Mariens
Herz mit unausſprechlichem Jammer. Ihre
Stiefmutter raͤumte, als alle weggegangen wa-
ren, eben das Zimmer auf. Die troſtloſe Ma-
rie ſprach hart mit ihr, und bewies — was ſie
noch nie gethan hatte — mit unumſtoͤßlichen
Gruͤnden, daß ſie ihr allein dies Ungluͤck, dieſen
Jammer zu danken habe, nie gefallen ſein wuͤr-
de, wenn ſie ihren Fall nicht vorbereitet haͤtte.
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 212[196]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/210>, abgerufen am 30.11.2024.
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