wenn ihre treue Wärterin nach der Ursache die- ser Thränen forschte. Einst äusserte sie hefti- ges Verlangen, in der Kapelle zu beten, aus welcher man ihre Mutter geraubt hatte. Der Vogt, dem strenge Obhut über sie geboten war, begleitete sie mit vielen Reisigen dahin, sie betete lange, und ging ruhig und heiter von dannen. In der folgenden Nacht entstand schrecklicher Gewittersturm; ein heftiges Erd- beben begleitete ihn, drohte die Veste einzu- stürzen, und durch die Wasserfluthen, welche sich in Strömen vom Himmel herab wälzten, alle lebende Geschöpfe zu ersäufen. Auch der Muthvollste bebte, aber unter allen am meisten Kleta; jeder Blitz warf sie auf ihr Lager zu- rück. Gottes Gericht ist schrecklich, rief sie im- mer, die Würkung des mütterlichen Fluchs ver- heerend; ich mühe mich vergebens, ich kann sie nicht wegbeten!
Schon am Morgen verlangte sie wieder nach der Kapelle, man erfüllte ihr Gebot, und leitete sie durch Umwege dahin, weil Erdbeben
wenn ihre treue Waͤrterin nach der Urſache die- ſer Thraͤnen forſchte. Einſt aͤuſſerte ſie hefti- ges Verlangen, in der Kapelle zu beten, aus welcher man ihre Mutter geraubt hatte. Der Vogt, dem ſtrenge Obhut uͤber ſie geboten war, begleitete ſie mit vielen Reiſigen dahin, ſie betete lange, und ging ruhig und heiter von dannen. In der folgenden Nacht entſtand ſchrecklicher Gewitterſturm; ein heftiges Erd- beben begleitete ihn, drohte die Veſte einzu- ſtuͤrzen, und durch die Waſſerfluthen, welche ſich in Stroͤmen vom Himmel herab waͤlzten, alle lebende Geſchoͤpfe zu erſaͤufen. Auch der Muthvollſte bebte, aber unter allen am meiſten Kleta; jeder Blitz warf ſie auf ihr Lager zu- ruͤck. Gottes Gericht iſt ſchrecklich, rief ſie im- mer, die Wuͤrkung des muͤtterlichen Fluchs ver- heerend; ich muͤhe mich vergebens, ich kann ſie nicht wegbeten!
Schon am Morgen verlangte ſie wieder nach der Kapelle, man erfuͤllte ihr Gebot, und leitete ſie durch Umwege dahin, weil Erdbeben
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wenn ihre treue Waͤrterin nach der Urſache die-
ſer Thraͤnen forſchte. Einſt aͤuſſerte ſie hefti-
ges Verlangen, in der Kapelle zu beten, aus
welcher man ihre Mutter geraubt hatte. Der
Vogt, dem ſtrenge Obhut uͤber ſie geboten
war, begleitete ſie mit vielen Reiſigen dahin,
ſie betete lange, und ging ruhig und heiter von
dannen. In der folgenden Nacht entſtand
ſchrecklicher Gewitterſturm; ein heftiges Erd-
beben begleitete ihn, drohte die Veſte einzu-
ſtuͤrzen, und durch die Waſſerfluthen, welche
ſich in Stroͤmen vom Himmel herab waͤlzten,
alle lebende Geſchoͤpfe zu erſaͤufen. Auch der
Muthvollſte bebte, aber unter allen am meiſten
Kleta; jeder Blitz warf ſie auf ihr Lager zu-
ruͤck. Gottes Gericht iſt ſchrecklich, rief ſie im-
mer, die Wuͤrkung des muͤtterlichen Fluchs ver-
heerend; ich muͤhe mich vergebens, ich kann ſie
nicht wegbeten!
Schon am Morgen verlangte ſie wieder
nach der Kapelle, man erfuͤllte ihr Gebot, und
leitete ſie durch Umwege dahin, weil Erdbeben
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/290>, abgerufen am 24.11.2024.
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