Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Peter machte vor Erstaunen seine runden Augen so weit
auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl
die Hälfte so groß wie die zwei, die er als eignes Mittags¬
mahl drinnen hatte.

"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr
der Oehi fort, "denn das Kind kann nicht trinken wie
du, nur so von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du
melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag, denn das
Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
herunterkommst; gib Acht, daß es nicht über die Felsen
hinunterfällt, hörst du?"

Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne
jetzt nicht auslachen, Großvater?" fragte es angelegentlich.
Es hatte sich mit dem groben Tuch, das der Großvater
neben dem Wasserzuber aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und
Arme in seinem Schrecken vor der Sonne so erstaunlich
gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater stand. Er
lachte ein wenig.

"Nein, nun hat sie Nichts zu lachen", bestätigte er.
"Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommst, da
gehst du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fisch;
denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man
schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."

Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte
in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau
schaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten

Kleine Geschichten. III. 3

Peter machte vor Erſtaunen ſeine runden Augen ſo weit
auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl
die Hälfte ſo groß wie die zwei, die er als eignes Mittags¬
mahl drinnen hatte.

„So, nun kommt noch das Schüſſelchen hinein“, fuhr
der Oehi fort, „denn das Kind kann nicht trinken wie
du, nur ſo von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du
melkſt ihm zwei Schüſſelchen voll zu Mittag, denn das
Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
herunterkommſt; gib Acht, daß es nicht über die Felſen
hinunterfällt, hörſt du?“

Nun kam Heidi hereingelaufen. „Kann mich die Sonne
jetzt nicht auslachen, Großvater?“ fragte es angelegentlich.
Es hatte ſich mit dem groben Tuch, das der Großvater
neben dem Waſſerzuber aufgehängt hatte, Geſicht, Hals und
Arme in ſeinem Schrecken vor der Sonne ſo erſtaunlich
gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater ſtand. Er
lachte ein wenig.

„Nein, nun hat ſie Nichts zu lachen“, beſtätigte er.
„Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommſt, da
gehſt du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fiſch;
denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man
ſchwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.“

Nun ging es luſtig die Alm hinan. Der Wind hatte
in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblaſen; dunkelblau
ſchaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten

Kleine Geſchichten. III. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0043" n="33"/>
Peter machte vor Er&#x017F;taunen &#x017F;eine runden Augen &#x017F;o weit<lb/>
auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl<lb/>
die Hälfte &#x017F;o groß wie die zwei, die er als eignes Mittags¬<lb/>
mahl drinnen hatte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;So, nun kommt noch das Schü&#x017F;&#x017F;elchen hinein&#x201C;, fuhr<lb/>
der Oehi fort, &#x201E;denn das Kind kann nicht trinken wie<lb/>
du, nur &#x017F;o von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du<lb/>
melk&#x017F;t ihm zwei Schü&#x017F;&#x017F;elchen voll zu Mittag, denn das<lb/>
Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder<lb/>
herunterkomm&#x017F;t; gib Acht, daß es nicht über die Fel&#x017F;en<lb/>
hinunterfällt, hör&#x017F;t du?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nun kam Heidi hereingelaufen. &#x201E;Kann mich die Sonne<lb/>
jetzt nicht auslachen, Großvater?&#x201C; fragte es angelegentlich.<lb/>
Es hatte &#x017F;ich mit dem groben Tuch, das der Großvater<lb/>
neben dem Wa&#x017F;&#x017F;erzuber aufgehängt hatte, Ge&#x017F;icht, Hals und<lb/>
Arme in &#x017F;einem Schrecken vor der Sonne &#x017F;o er&#x017F;taunlich<lb/>
gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater &#x017F;tand. Er<lb/>
lachte ein wenig.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein, nun hat &#x017F;ie Nichts zu lachen&#x201C;, be&#x017F;tätigte er.<lb/>
&#x201E;Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkomm&#x017F;t, da<lb/>
geh&#x017F;t du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fi&#x017F;ch;<lb/>
denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man<lb/>
&#x017F;chwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nun ging es lu&#x017F;tig die Alm hinan. Der Wind hatte<lb/>
in der Nacht das letzte Wölkchen weggebla&#x017F;en; dunkelblau<lb/>
&#x017F;chaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kleine Ge&#x017F;chichten. <hi rendition="#aq">III</hi>. 3<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0043] Peter machte vor Erſtaunen ſeine runden Augen ſo weit auf, als nur möglich, denn die beiden Stücke waren wohl die Hälfte ſo groß wie die zwei, die er als eignes Mittags¬ mahl drinnen hatte. „So, nun kommt noch das Schüſſelchen hinein“, fuhr der Oehi fort, „denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur ſo von der Gaiß weg, es kennt das nicht. Du melkſt ihm zwei Schüſſelchen voll zu Mittag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder herunterkommſt; gib Acht, daß es nicht über die Felſen hinunterfällt, hörſt du?“ Nun kam Heidi hereingelaufen. „Kann mich die Sonne jetzt nicht auslachen, Großvater?“ fragte es angelegentlich. Es hatte ſich mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Waſſerzuber aufgehängt hatte, Geſicht, Hals und Arme in ſeinem Schrecken vor der Sonne ſo erſtaunlich gerieben, daß es krebsroth vor dem Großvater ſtand. Er lachte ein wenig. „Nein, nun hat ſie Nichts zu lachen“, beſtätigte er. „Aber weißt was? Am Abend, wenn du heimkommſt, da gehſt du noch ganz hinein in den Zuber, wie ein Fiſch; denn wenn man geht, wie die Gaißen, da bekommt man ſchwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen.“ Nun ging es luſtig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das letzte Wölkchen weggeblaſen; dunkelblau ſchaute der Himmel von allen Seiten hernieder, und mitten Kleine Geſchichten. III. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/43
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/43>, abgerufen am 03.12.2024.