pst_143.001 Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor, pst_143.002 in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein pst_143.003 Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge pst_143.004 so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet, pst_143.005 sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch, pst_143.006 Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre pst_143.007 Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter pst_143.008 stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern, pst_143.009 die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren pst_143.010 Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich pst_143.011 wird.
pst_143.012
Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns pst_143.013 der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und pst_143.014 steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch pst_143.015 sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas pst_143.016 verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten. pst_143.017 Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, pst_143.018 ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem pst_143.019 das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint. pst_143.020 Rein Episches ist später nicht mehr möglich, pst_143.021 aus dem einfachen Grund, weil "Ilias", "Odyssee" und pst_143.022 der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits pst_143.023 zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So pst_143.024 wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig pst_143.025 kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder pst_143.026 auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem pst_143.027 bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen pst_143.028 und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies pst_143.029 aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß pst_143.030 erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung pst_143.031 sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung
pst_143.001 Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor, pst_143.002 in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein pst_143.003 Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge pst_143.004 so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet, pst_143.005 sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch, pst_143.006 Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre pst_143.007 Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter pst_143.008 stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern, pst_143.009 die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren pst_143.010 Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich pst_143.011 wird.
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Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns pst_143.013 der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und pst_143.014 steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch pst_143.015 sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas pst_143.016 verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten. pst_143.017 Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, pst_143.018 ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem pst_143.019 das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint. pst_143.020 Rein Episches ist später nicht mehr möglich, pst_143.021 aus dem einfachen Grund, weil «Ilias», «Odyssee» und pst_143.022 der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits pst_143.023 zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So pst_143.024 wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig pst_143.025 kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder pst_143.026 auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem pst_143.027 bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen pst_143.028 und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies pst_143.029 aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß pst_143.030 erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung pst_143.031 sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/147>, abgerufen am 16.02.2025.
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