Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_049.001 Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang pst_049.002 Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen pst_049.006 "Und frische Nahrung neues Blut ..." (Goethe)pst_049.009 pst_049.010"Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ..." (Goethe) pst_049.011 "Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ..." (Rilke) pst_049.012 Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen pst_049.013 pst_049.001 Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang pst_049.002 Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen pst_049.006 «Und frische Nahrung neues Blut ...» (Goethe)pst_049.009 pst_049.010«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...» (Goethe) pst_049.011 «Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...» (Rilke) pst_049.012 Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen pst_049.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0053" n="49"/> <lb n="pst_049.001"/> <p>Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang <lb n="pst_049.002"/> von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen. <lb n="pst_049.003"/> Wie viele lieben und singen sie, ohne den Roman <lb n="pst_049.004"/> zu kennen!</p> <lb n="pst_049.005"/> <p> Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen <lb n="pst_049.006"/> Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen <lb n="pst_049.007"/> Konjunktionen beginnen:</p> <lb n="pst_049.008"/> <p> <lg> <l>«Und frische Nahrung neues Blut ...»</l> </lg> <hi rendition="#aq">(Goethe)</hi> </p> <p> <lg> <lb n="pst_049.009"/> <l>«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»</l> </lg> <lb n="pst_049.010"/> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">(Goethe)</hi> </hi> </p> <lb n="pst_049.011"/> <p> <lg> <l>«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...»</l> </lg> <hi rendition="#aq">(Rilke)</hi> </p> <lb n="pst_049.012"/> <p> Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen <lb n="pst_049.013"/> einer Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle <lb n="pst_049.014"/> im Lauf eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein <lb n="pst_049.015"/> sich in Musik. Das ist die «Gelegenheit», die <lb n="pst_049.016"/> Goethe veranlaßt hat, jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht <lb n="pst_049.017"/> zu nennen. Die Gelegenheit als solche <lb n="pst_049.018"/> steht in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang. <lb n="pst_049.019"/> Sie läßt sich biographisch, psychologisch, soziologisch, <lb n="pst_049.020"/> historisch oder biologisch begründen. Goethe hat in <lb n="pst_049.021"/> «Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst die Gelegenheit <lb n="pst_049.022"/> zu vielen Gedichten aus dem Zusammenhang <lb n="pst_049.023"/> seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat dies <lb n="pst_049.024"/> mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten <lb n="pst_049.025"/> auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten, <lb n="pst_049.026"/> weil der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft <lb n="pst_049.027"/> selber nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten, <lb n="pst_049.028"/> weil sie unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare <lb n="pst_049.029"/> Verständlichkeit beruht jedoch nicht etwa <lb n="pst_049.030"/> darauf, daß der Leser die Worte auf eine ähnliche Gelegenheit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0053]
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Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang pst_049.002
von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen. pst_049.003
Wie viele lieben und singen sie, ohne den Roman pst_049.004
zu kennen!
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Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen pst_049.006
Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen pst_049.007
Konjunktionen beginnen:
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«Und frische Nahrung neues Blut ...»
(Goethe)
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«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»
pst_049.010
(Goethe)
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«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...»
(Rilke)
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Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen pst_049.013
einer Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle pst_049.014
im Lauf eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein pst_049.015
sich in Musik. Das ist die «Gelegenheit», die pst_049.016
Goethe veranlaßt hat, jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht pst_049.017
zu nennen. Die Gelegenheit als solche pst_049.018
steht in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang. pst_049.019
Sie läßt sich biographisch, psychologisch, soziologisch, pst_049.020
historisch oder biologisch begründen. Goethe hat in pst_049.021
«Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst die Gelegenheit pst_049.022
zu vielen Gedichten aus dem Zusammenhang pst_049.023
seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat dies pst_049.024
mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten pst_049.025
auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten, pst_049.026
weil der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft pst_049.027
selber nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten, pst_049.028
weil sie unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare pst_049.029
Verständlichkeit beruht jedoch nicht etwa pst_049.030
darauf, daß der Leser die Worte auf eine ähnliche Gelegenheit
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