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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Das öffentliche Recht der Reise oder des persönlichen Verkehrs
beginnt mit den Geleitsbriefen. Die Geleitsbriefe sind dem Inhalte
nach allerdings unsre gegenwärtigen Pässe; aber der Form und dem
Recht nach sind sie wesentlich von ihnen verschieden. Sie sind nämlich
sowohl für die Regierungen als für die Einzelnen ganz facultativ.
Niemand hat die Pflicht sie zu nehmen, und selbst ihre Beachtung ist
zuletzt nur eine internationale Courtoisie; sie sind kein Institut, son-
dern Vorsichtsmaßregeln von Seiten der Einzelnen, und Gefälligkeiten
von Seiten der Regierungen.

Der historische Anfang ihrer Einführung in Deutschland beruht
darauf, daß nach altem Reichsrecht unzweifelhaft "ein jeder Reichsstand
des andern Unterthanen, geistlich und weltlich, durch sein Fürstenthum,
Landschaften, Grafschaften, Herrschaften, Obrigkeit und Geleit frey,
sicher und ungehindert wandern, ziehen und werben lassen soll" (Land-
frieden
von 1548 §. 1). Allein zugleich behielt sich jeder Reichsstand
das Recht vor, "dem fremden Unterthanen den Eintritt in sein Land
und die Durchreise nach Umständen zu verwehren" -- ein Recht, das
eins von den vielen Auswüchsen der örtlichen Souveränetät war, an
denen Deutschland zu Grunde ging. (Moser, Nachbarliches Staats-
recht S. 676). Das Rechts- oder vielmehr das Gerichtsverhältniß der
Fremden während ihres Aufenthalts bezeichnete bekanntlich die Aus-
drücke "Gastrecht" und "Gastgerichte." Grimm hat sie in seinen
Rechtsalterthümern kurz und scharf charakterisirt (S. 396--402) Osen-
brüggen
mit seiner Gründlichkeit und seinem umfassenden Blick ("die
Gastgerichte der Deutschen im Mittelalter") genauer untersucht. Doch
war das alles noch wesentlich örtliches Recht. Der Hauptgrund, diesen
Keim zu einem allgemeinen Reichsrecht auszubilden, lag dann in den
Religionskriegen und den dadurch hervorgebrachten Auswanderungen.
Wenn der Auswanderer Vermögen zurückgelassen, oder in mehreren Staaten
Vermögen besaß, so war er von der Willkür der Territorialherrschaft
in dieser Beziehung abhängig. Dem beugten nun wohl schon damals
die einzelnen Staaten durch Geleitsbriefe (litera commeatus) vor; aber
erst der Westphälische Frieden erhob den Grundsatz zum Reichs-
recht, daß das Princip des Landfriedens von 1538 im Allgemeinen --
"ut omnibus et singulis -- eundi, negotiandi, redeundique potestas
data sit" (a. IX.
§. 2) -- und speziell in Beziehung auf die der Reli-
gion halber zur Auswanderung Genöthigte -- gelten solle: "ad res
suas inspiciendas -- libere et sine literis commeatus cedire" (a.
V.
§. 36). Allein diese Grundsätze kamen doch nur praktisch so weit
zur Geltung, als die einzelnen Staaten es für gut hielten; der geringe
Verkehr machte die Sache selbst wenig praktisch (Berg Handbuch des

Das öffentliche Recht der Reiſe oder des perſönlichen Verkehrs
beginnt mit den Geleitsbriefen. Die Geleitsbriefe ſind dem Inhalte
nach allerdings unſre gegenwärtigen Päſſe; aber der Form und dem
Recht nach ſind ſie weſentlich von ihnen verſchieden. Sie ſind nämlich
ſowohl für die Regierungen als für die Einzelnen ganz facultativ.
Niemand hat die Pflicht ſie zu nehmen, und ſelbſt ihre Beachtung iſt
zuletzt nur eine internationale Courtoiſie; ſie ſind kein Inſtitut, ſon-
dern Vorſichtsmaßregeln von Seiten der Einzelnen, und Gefälligkeiten
von Seiten der Regierungen.

Der hiſtoriſche Anfang ihrer Einführung in Deutſchland beruht
darauf, daß nach altem Reichsrecht unzweifelhaft „ein jeder Reichsſtand
des andern Unterthanen, geiſtlich und weltlich, durch ſein Fürſtenthum,
Landſchaften, Grafſchaften, Herrſchaften, Obrigkeit und Geleit frey,
ſicher und ungehindert wandern, ziehen und werben laſſen ſoll“ (Land-
frieden
von 1548 §. 1). Allein zugleich behielt ſich jeder Reichsſtand
das Recht vor, „dem fremden Unterthanen den Eintritt in ſein Land
und die Durchreiſe nach Umſtänden zu verwehren“ — ein Recht, das
eins von den vielen Auswüchſen der örtlichen Souveränetät war, an
denen Deutſchland zu Grunde ging. (Moſer, Nachbarliches Staats-
recht S. 676). Das Rechts- oder vielmehr das Gerichtsverhältniß der
Fremden während ihres Aufenthalts bezeichnete bekanntlich die Aus-
drücke „Gaſtrecht“ und „Gaſtgerichte.“ Grimm hat ſie in ſeinen
Rechtsalterthümern kurz und ſcharf charakteriſirt (S. 396—402) Oſen-
brüggen
mit ſeiner Gründlichkeit und ſeinem umfaſſenden Blick („die
Gaſtgerichte der Deutſchen im Mittelalter“) genauer unterſucht. Doch
war das alles noch weſentlich örtliches Recht. Der Hauptgrund, dieſen
Keim zu einem allgemeinen Reichsrecht auszubilden, lag dann in den
Religionskriegen und den dadurch hervorgebrachten Auswanderungen.
Wenn der Auswanderer Vermögen zurückgelaſſen, oder in mehreren Staaten
Vermögen beſaß, ſo war er von der Willkür der Territorialherrſchaft
in dieſer Beziehung abhängig. Dem beugten nun wohl ſchon damals
die einzelnen Staaten durch Geleitsbriefe (litera commeatus) vor; aber
erſt der Weſtphäliſche Frieden erhob den Grundſatz zum Reichs-
recht, daß das Princip des Landfriedens von 1538 im Allgemeinen —
„ut omnibus et singulis — eundi, negotiandi, redeundique potestas
data sit“ (a. IX.
§. 2) — und ſpeziell in Beziehung auf die der Reli-
gion halber zur Auswanderung Genöthigte — gelten ſolle: „ad res
suas inspiciendas — libere et sine literis commeatus cedire“ (a.
V.
§. 36). Allein dieſe Grundſätze kamen doch nur praktiſch ſo weit
zur Geltung, als die einzelnen Staaten es für gut hielten; der geringe
Verkehr machte die Sache ſelbſt wenig praktiſch (Berg Handbuch des

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[254/0276] Das öffentliche Recht der Reiſe oder des perſönlichen Verkehrs beginnt mit den Geleitsbriefen. Die Geleitsbriefe ſind dem Inhalte nach allerdings unſre gegenwärtigen Päſſe; aber der Form und dem Recht nach ſind ſie weſentlich von ihnen verſchieden. Sie ſind nämlich ſowohl für die Regierungen als für die Einzelnen ganz facultativ. Niemand hat die Pflicht ſie zu nehmen, und ſelbſt ihre Beachtung iſt zuletzt nur eine internationale Courtoiſie; ſie ſind kein Inſtitut, ſon- dern Vorſichtsmaßregeln von Seiten der Einzelnen, und Gefälligkeiten von Seiten der Regierungen. Der hiſtoriſche Anfang ihrer Einführung in Deutſchland beruht darauf, daß nach altem Reichsrecht unzweifelhaft „ein jeder Reichsſtand des andern Unterthanen, geiſtlich und weltlich, durch ſein Fürſtenthum, Landſchaften, Grafſchaften, Herrſchaften, Obrigkeit und Geleit frey, ſicher und ungehindert wandern, ziehen und werben laſſen ſoll“ (Land- frieden von 1548 §. 1). Allein zugleich behielt ſich jeder Reichsſtand das Recht vor, „dem fremden Unterthanen den Eintritt in ſein Land und die Durchreiſe nach Umſtänden zu verwehren“ — ein Recht, das eins von den vielen Auswüchſen der örtlichen Souveränetät war, an denen Deutſchland zu Grunde ging. (Moſer, Nachbarliches Staats- recht S. 676). Das Rechts- oder vielmehr das Gerichtsverhältniß der Fremden während ihres Aufenthalts bezeichnete bekanntlich die Aus- drücke „Gaſtrecht“ und „Gaſtgerichte.“ Grimm hat ſie in ſeinen Rechtsalterthümern kurz und ſcharf charakteriſirt (S. 396—402) Oſen- brüggen mit ſeiner Gründlichkeit und ſeinem umfaſſenden Blick („die Gaſtgerichte der Deutſchen im Mittelalter“) genauer unterſucht. Doch war das alles noch weſentlich örtliches Recht. Der Hauptgrund, dieſen Keim zu einem allgemeinen Reichsrecht auszubilden, lag dann in den Religionskriegen und den dadurch hervorgebrachten Auswanderungen. Wenn der Auswanderer Vermögen zurückgelaſſen, oder in mehreren Staaten Vermögen beſaß, ſo war er von der Willkür der Territorialherrſchaft in dieſer Beziehung abhängig. Dem beugten nun wohl ſchon damals die einzelnen Staaten durch Geleitsbriefe (litera commeatus) vor; aber erſt der Weſtphäliſche Frieden erhob den Grundſatz zum Reichs- recht, daß das Princip des Landfriedens von 1538 im Allgemeinen — „ut omnibus et singulis — eundi, negotiandi, redeundique potestas data sit“ (a. IX. §. 2) — und ſpeziell in Beziehung auf die der Reli- gion halber zur Auswanderung Genöthigte — gelten ſolle: „ad res suas inspiciendas — libere et sine literis commeatus cedire“ (a. V. §. 36). Allein dieſe Grundſätze kamen doch nur praktiſch ſo weit zur Geltung, als die einzelnen Staaten es für gut hielten; der geringe Verkehr machte die Sache ſelbſt wenig praktiſch (Berg Handbuch des

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/276>, abgerufen am 21.11.2024.