der Vollendung der innern Zustände redet, so soll man nie ver- gessen, daß die Freiheit in der Verwaltung nicht nur einen andern Sinn, sondern auch einen andern Werth hat als den in der Verfassung. Der Freiheit in der Verwaltung ist die Unterwerfung jedes Sonderinteresses unter das Gesammtinteresse, und die Er- kenntniß, daß die wahre Entwicklung jedes Einzelnen erst durch das Ganze möglich ist, und daß die Entwicklung des Ganzen wieder ihre wahre Grundlage erst im Einzelnen hat. Jede freie Verfassung, die nicht in unserm Sinne zur freien Verwaltung führt, ist schon an und für sich keine gesunde Verfassung mehr. Jede Ver- fassung, welche diese freie Verwaltung vorbereitet oder verwirklicht, ist die beste. Der Werth aller Verfassungen beruht daher in ihrem Verhältniß zur Verwaltung. Und die Staatswissen- schaften werden erst dann ihre wahre Aufgabe vollziehen, wenn sie dieß erkennen. Denn durch das gewaltige, gesellschaftbildende Element, das wieder seinerseits eben in der guten Verwaltung liegt, wird die Ver- waltung von selbst die beste Verfassung erzeugen. Das sind und bleiben die Ausgangspunkte der Staatswissenschaft unserer Zeit und unserer Zukunft.
Hat nun die Verwaltung überhaupt, vor allem aber die Verwal- tung des Innern, eine so hohe Bedeutung, so ist damit natürlich nicht bloß die rein historische Auffassung von Polizei oder ähnlicher Be- griffe als Uebergangsstadium zu betrachten. Wir müssen vielmehr jene Gesammtheit von Thätigkeiten und Aufgaben, welche wir als Verwaltung bezeichnet haben, als ein großes und lebendiges Ganze erkennen. Wir müssen nicht bloß die Verwaltung von der Vollziehung scheiden, welche wir als die Selbstbestimmung der Verwaltung zwischen Verfassung und Verwaltung selbständig hingestellt haben. Wir müssen sie als ein eigenthümliches Ganze betrachten, das seinen Inhalt eben durch die selbständige Aufgabe des Gesammtinteresses und der indivi- duellen Entwicklung bekommt, zweier stets thätiger und stets mächtiger Faktoren, die ihr Wirken nicht etwa von dem guten Willen und dem Verstande einzelner Organe abhängig machen. Wir müssen uns daher nicht die Sache so vorstellen, als ob Verfassung und Vollziehung erst diese Objekte freiwillig und nach Gutdünken erfaßten, und nach ihrem gleichsam subjektiven Ermessen regelten. Im Gegentheil ist die Sache in Wahrheit umgekehrt. Jene Potenzen, die hohe ethische Forderung der Gesammtentwicklung und der Forderung der Einzelnen greifen selb- ständig und mächtig in Verfassung und Vollziehung hinein, und machen sie zum Mittel für sich. Sie krystallisiren gleichsam die Verfassungs- und Vollziehungsgewalt um sich herum und in sich, und erscheinen
Stein, die Verwaltungslehre. II. 4
der Vollendung der innern Zuſtände redet, ſo ſoll man nie ver- geſſen, daß die Freiheit in der Verwaltung nicht nur einen andern Sinn, ſondern auch einen andern Werth hat als den in der Verfaſſung. Der Freiheit in der Verwaltung iſt die Unterwerfung jedes Sonderintereſſes unter das Geſammtintereſſe, und die Er- kenntniß, daß die wahre Entwicklung jedes Einzelnen erſt durch das Ganze möglich iſt, und daß die Entwicklung des Ganzen wieder ihre wahre Grundlage erſt im Einzelnen hat. Jede freie Verfaſſung, die nicht in unſerm Sinne zur freien Verwaltung führt, iſt ſchon an und für ſich keine geſunde Verfaſſung mehr. Jede Ver- faſſung, welche dieſe freie Verwaltung vorbereitet oder verwirklicht, iſt die beſte. Der Werth aller Verfaſſungen beruht daher in ihrem Verhältniß zur Verwaltung. Und die Staatswiſſen- ſchaften werden erſt dann ihre wahre Aufgabe vollziehen, wenn ſie dieß erkennen. Denn durch das gewaltige, geſellſchaftbildende Element, das wieder ſeinerſeits eben in der guten Verwaltung liegt, wird die Ver- waltung von ſelbſt die beſte Verfaſſung erzeugen. Das ſind und bleiben die Ausgangspunkte der Staatswiſſenſchaft unſerer Zeit und unſerer Zukunft.
Hat nun die Verwaltung überhaupt, vor allem aber die Verwal- tung des Innern, eine ſo hohe Bedeutung, ſo iſt damit natürlich nicht bloß die rein hiſtoriſche Auffaſſung von Polizei oder ähnlicher Be- griffe als Uebergangsſtadium zu betrachten. Wir müſſen vielmehr jene Geſammtheit von Thätigkeiten und Aufgaben, welche wir als Verwaltung bezeichnet haben, als ein großes und lebendiges Ganze erkennen. Wir müſſen nicht bloß die Verwaltung von der Vollziehung ſcheiden, welche wir als die Selbſtbeſtimmung der Verwaltung zwiſchen Verfaſſung und Verwaltung ſelbſtändig hingeſtellt haben. Wir müſſen ſie als ein eigenthümliches Ganze betrachten, das ſeinen Inhalt eben durch die ſelbſtändige Aufgabe des Geſammtintereſſes und der indivi- duellen Entwicklung bekommt, zweier ſtets thätiger und ſtets mächtiger Faktoren, die ihr Wirken nicht etwa von dem guten Willen und dem Verſtande einzelner Organe abhängig machen. Wir müſſen uns daher nicht die Sache ſo vorſtellen, als ob Verfaſſung und Vollziehung erſt dieſe Objekte freiwillig und nach Gutdünken erfaßten, und nach ihrem gleichſam ſubjektiven Ermeſſen regelten. Im Gegentheil iſt die Sache in Wahrheit umgekehrt. Jene Potenzen, die hohe ethiſche Forderung der Geſammtentwicklung und der Forderung der Einzelnen greifen ſelb- ſtändig und mächtig in Verfaſſung und Vollziehung hinein, und machen ſie zum Mittel für ſich. Sie kryſtalliſiren gleichſam die Verfaſſungs- und Vollziehungsgewalt um ſich herum und in ſich, und erſcheinen
Stein, die Verwaltungslehre. II. 4
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der Vollendung der innern Zuſtände redet, ſo ſoll man nie ver-
geſſen, daß die Freiheit in der Verwaltung nicht nur einen andern
Sinn, ſondern auch einen andern Werth hat als den in der Verfaſſung.
Der Freiheit in der Verwaltung iſt die Unterwerfung jedes
Sonderintereſſes unter das Geſammtintereſſe, und die Er-
kenntniß, daß die wahre Entwicklung jedes Einzelnen erſt durch das
Ganze möglich iſt, und daß die Entwicklung des Ganzen wieder ihre
wahre Grundlage erſt im Einzelnen hat. Jede freie Verfaſſung,
die nicht in unſerm Sinne zur freien Verwaltung führt,
iſt ſchon an und für ſich keine geſunde Verfaſſung mehr. Jede Ver-
faſſung, welche dieſe freie Verwaltung vorbereitet oder verwirklicht, iſt
die beſte. Der Werth aller Verfaſſungen beruht daher in
ihrem Verhältniß zur Verwaltung. Und die Staatswiſſen-
ſchaften werden erſt dann ihre wahre Aufgabe vollziehen, wenn ſie dieß
erkennen. Denn durch das gewaltige, geſellſchaftbildende Element, das
wieder ſeinerſeits eben in der guten Verwaltung liegt, wird die Ver-
waltung von ſelbſt die beſte Verfaſſung erzeugen. Das ſind und
bleiben die Ausgangspunkte der Staatswiſſenſchaft unſerer Zeit und
unſerer Zukunft.
Hat nun die Verwaltung überhaupt, vor allem aber die Verwal-
tung des Innern, eine ſo hohe Bedeutung, ſo iſt damit natürlich nicht
bloß die rein hiſtoriſche Auffaſſung von Polizei oder ähnlicher Be-
griffe als Uebergangsſtadium zu betrachten. Wir müſſen vielmehr
jene Geſammtheit von Thätigkeiten und Aufgaben, welche wir als
Verwaltung bezeichnet haben, als ein großes und lebendiges Ganze
erkennen. Wir müſſen nicht bloß die Verwaltung von der Vollziehung
ſcheiden, welche wir als die Selbſtbeſtimmung der Verwaltung zwiſchen
Verfaſſung und Verwaltung ſelbſtändig hingeſtellt haben. Wir müſſen
ſie als ein eigenthümliches Ganze betrachten, das ſeinen Inhalt eben
durch die ſelbſtändige Aufgabe des Geſammtintereſſes und der indivi-
duellen Entwicklung bekommt, zweier ſtets thätiger und ſtets mächtiger
Faktoren, die ihr Wirken nicht etwa von dem guten Willen und dem
Verſtande einzelner Organe abhängig machen. Wir müſſen uns daher
nicht die Sache ſo vorſtellen, als ob Verfaſſung und Vollziehung erſt
dieſe Objekte freiwillig und nach Gutdünken erfaßten, und nach ihrem
gleichſam ſubjektiven Ermeſſen regelten. Im Gegentheil iſt die Sache
in Wahrheit umgekehrt. Jene Potenzen, die hohe ethiſche Forderung
der Geſammtentwicklung und der Forderung der Einzelnen greifen ſelb-
ſtändig und mächtig in Verfaſſung und Vollziehung hinein, und machen
ſie zum Mittel für ſich. Sie kryſtalliſiren gleichſam die Verfaſſungs-
und Vollziehungsgewalt um ſich herum und in ſich, und erſcheinen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/71>, abgerufen am 23.02.2025.
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