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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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und nicht von historisch entstandenen Körperschaften oder von dem immer
verschiedenen und sehr oft zufälligen Verhältniß der Selbstverwaltungs-
körper und Selbstverwaltungsrechte örtlich verschieden bestimmt werden.
Es ist der Sache wie der Form nach Eine große, für das ganze Reich
gleichmäßig durchgeführte, fast ohne alle Theilnahme der Selbstver-
waltung wirkende Verwaltungsanstalt, in der kein Theil von dem
andern getrennt ist, kein Theil eine eigene, gesonderte Entwicklung hat,
und die daher auch unter einem Namen von einer Gesetzgebung be-
herrscht wird. Diese Anstalt, das gesammte Bildungswesen des Reiches
umfassend, heißt die Universite, welche daher im wesentlichen Unter-
schiede von dem historischen Begriffe der Universität, neben allen
Formen und Anstalten der Berufsbildung, auch das gesammte Volks-
bildungswesen zugleich umfaßt, und unter einem das Ganze gleich-
mäßig verwaltenden Organismus steht. Die französische Universite hat
daher mit der deutschen Universität gar nichts gemein. Sie ist
vielmehr der Organismus des gesammten Bildungswesens
der Regierung, von der Elementarschule bis zu den Fakultäten; und
in diesem Sinne ist die Geschichte des französischen Bildungswesens die
Geschichte der Universite.

Allerdings ist dieß der gegenwärtige Charakter des französischen
Bildungswesens, und es wird unsere Aufgabe sein, dasselbe unten in
seinen einzelnen Theilen und Gebieten genauer zu verfolgen. Allein
dasselbe ist so wenig plötzlich entstanden wie irgend ein anderer Theil
der öffentlichen Macht in diesem merkwürdigen Staate; und kaum
bietet irgend ein anderes Land so viel Interesse durch seine historische
Entwicklung auch auf diesem Punkte dar, als Frankreich. Wir glauben
daher die letztere hier in ihren Hauptzügen charakterisiren zu sollen.
Und zwar um so mehr, als gerade diese immer höchst beachtenswerthe
Entwicklung des französischen Bildungswesens verkannt wird, weil aller-
dings die Grundform desselben, eben jene Universite, in ihrer alles
überragenden Bedeutung die Auffassung der Deutschen, die sich mit
ihr beschäftigt haben, zu sehr absorbirt hat, wenn auch nur wenige in
so grobe Irrthümer und in so gänzliches Mißverständniß der Sache
verfallen, wie neulich C. Richter in seinem sogenannten "Staats- und
Gesellschaftsrecht der französischen Revolution" (II. S. 610--615), der
gar nicht ahnt, was die Universite ist, die Napoleon "nun wieder
als kaiserliche Universität errichtet" haben soll. Die wirklichen Haupt-
stadien der Entwicklung des französischen Bildungswesens aber, zurück-
geführt auf die von uns aufgestellten Elemente des gesammten Bildungs-
wesens sind folgende.

Die erste Epoche ist diejenige, welche mit der französischen Revolution

und nicht von hiſtoriſch entſtandenen Körperſchaften oder von dem immer
verſchiedenen und ſehr oft zufälligen Verhältniß der Selbſtverwaltungs-
körper und Selbſtverwaltungsrechte örtlich verſchieden beſtimmt werden.
Es iſt der Sache wie der Form nach Eine große, für das ganze Reich
gleichmäßig durchgeführte, faſt ohne alle Theilnahme der Selbſtver-
waltung wirkende Verwaltungsanſtalt, in der kein Theil von dem
andern getrennt iſt, kein Theil eine eigene, geſonderte Entwicklung hat,
und die daher auch unter einem Namen von einer Geſetzgebung be-
herrſcht wird. Dieſe Anſtalt, das geſammte Bildungsweſen des Reiches
umfaſſend, heißt die Université, welche daher im weſentlichen Unter-
ſchiede von dem hiſtoriſchen Begriffe der Univerſität, neben allen
Formen und Anſtalten der Berufsbildung, auch das geſammte Volks-
bildungsweſen zugleich umfaßt, und unter einem das Ganze gleich-
mäßig verwaltenden Organismus ſteht. Die franzöſiſche Université hat
daher mit der deutſchen Univerſität gar nichts gemein. Sie iſt
vielmehr der Organismus des geſammten Bildungsweſens
der Regierung, von der Elementarſchule bis zu den Fakultäten; und
in dieſem Sinne iſt die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens die
Geſchichte der Université.

Allerdings iſt dieß der gegenwärtige Charakter des franzöſiſchen
Bildungsweſens, und es wird unſere Aufgabe ſein, daſſelbe unten in
ſeinen einzelnen Theilen und Gebieten genauer zu verfolgen. Allein
daſſelbe iſt ſo wenig plötzlich entſtanden wie irgend ein anderer Theil
der öffentlichen Macht in dieſem merkwürdigen Staate; und kaum
bietet irgend ein anderes Land ſo viel Intereſſe durch ſeine hiſtoriſche
Entwicklung auch auf dieſem Punkte dar, als Frankreich. Wir glauben
daher die letztere hier in ihren Hauptzügen charakteriſiren zu ſollen.
Und zwar um ſo mehr, als gerade dieſe immer höchſt beachtenswerthe
Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens verkannt wird, weil aller-
dings die Grundform deſſelben, eben jene Université, in ihrer alles
überragenden Bedeutung die Auffaſſung der Deutſchen, die ſich mit
ihr beſchäftigt haben, zu ſehr abſorbirt hat, wenn auch nur wenige in
ſo grobe Irrthümer und in ſo gänzliches Mißverſtändniß der Sache
verfallen, wie neulich C. Richter in ſeinem ſogenannten „Staats- und
Geſellſchaftsrecht der franzöſiſchen Revolution“ (II. S. 610—615), der
gar nicht ahnt, was die Université iſt, die Napoleon „nun wieder
als kaiſerliche Univerſität errichtet“ haben ſoll. Die wirklichen Haupt-
ſtadien der Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens aber, zurück-
geführt auf die von uns aufgeſtellten Elemente des geſammten Bildungs-
weſens ſind folgende.

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[46/0074] und nicht von hiſtoriſch entſtandenen Körperſchaften oder von dem immer verſchiedenen und ſehr oft zufälligen Verhältniß der Selbſtverwaltungs- körper und Selbſtverwaltungsrechte örtlich verſchieden beſtimmt werden. Es iſt der Sache wie der Form nach Eine große, für das ganze Reich gleichmäßig durchgeführte, faſt ohne alle Theilnahme der Selbſtver- waltung wirkende Verwaltungsanſtalt, in der kein Theil von dem andern getrennt iſt, kein Theil eine eigene, geſonderte Entwicklung hat, und die daher auch unter einem Namen von einer Geſetzgebung be- herrſcht wird. Dieſe Anſtalt, das geſammte Bildungsweſen des Reiches umfaſſend, heißt die Université, welche daher im weſentlichen Unter- ſchiede von dem hiſtoriſchen Begriffe der Univerſität, neben allen Formen und Anſtalten der Berufsbildung, auch das geſammte Volks- bildungsweſen zugleich umfaßt, und unter einem das Ganze gleich- mäßig verwaltenden Organismus ſteht. Die franzöſiſche Université hat daher mit der deutſchen Univerſität gar nichts gemein. Sie iſt vielmehr der Organismus des geſammten Bildungsweſens der Regierung, von der Elementarſchule bis zu den Fakultäten; und in dieſem Sinne iſt die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens die Geſchichte der Université. Allerdings iſt dieß der gegenwärtige Charakter des franzöſiſchen Bildungsweſens, und es wird unſere Aufgabe ſein, daſſelbe unten in ſeinen einzelnen Theilen und Gebieten genauer zu verfolgen. Allein daſſelbe iſt ſo wenig plötzlich entſtanden wie irgend ein anderer Theil der öffentlichen Macht in dieſem merkwürdigen Staate; und kaum bietet irgend ein anderes Land ſo viel Intereſſe durch ſeine hiſtoriſche Entwicklung auch auf dieſem Punkte dar, als Frankreich. Wir glauben daher die letztere hier in ihren Hauptzügen charakteriſiren zu ſollen. Und zwar um ſo mehr, als gerade dieſe immer höchſt beachtenswerthe Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens verkannt wird, weil aller- dings die Grundform deſſelben, eben jene Université, in ihrer alles überragenden Bedeutung die Auffaſſung der Deutſchen, die ſich mit ihr beſchäftigt haben, zu ſehr abſorbirt hat, wenn auch nur wenige in ſo grobe Irrthümer und in ſo gänzliches Mißverſtändniß der Sache verfallen, wie neulich C. Richter in ſeinem ſogenannten „Staats- und Geſellſchaftsrecht der franzöſiſchen Revolution“ (II. S. 610—615), der gar nicht ahnt, was die Université iſt, die Napoleon „nun wieder als kaiſerliche Univerſität errichtet“ haben ſoll. Die wirklichen Haupt- ſtadien der Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens aber, zurück- geführt auf die von uns aufgeſtellten Elemente des geſammten Bildungs- weſens ſind folgende. Die erſte Epoche iſt diejenige, welche mit der franzöſiſchen Revolution

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/74>, abgerufen am 21.11.2024.