Selbstverwaltung ein wirklich verschiedener in den verschiedenen Ländern. Denn während die Grundentlastung einen Theil des gesellschaftlichen Lebens der europäischen Völker bildet, das sich, auf gleicher Grundlage entstanden, auch gleichartig entwickelt, ist die neue Stellung der Land- gemeinde der Ausdruck der staatlichen Individualität, die sich wesentlich in dem Verhältniß der Staatsverwaltung zur Selbstverwaltung äußert. Daher dann die obwohl lange nicht genug beachtete, so doch überraschende Erscheinung, daß sich die rechte Individualität des Staatslebens der europäischen Völker in der That erst nach dem, mit der Grundent- lastung definitiv entschiedenen Siege der staatsbürgerlichen Gesellschafts- ordnung herausbildet. Was eigentlich Deutschland, England und Frankreich ihrer individuellen Natur nach sind, das tritt erst zu Tage, nachdem der Befreiungsproceß von der Geschlechterherrschaft abgeschlossen ist. Und diese Individualität der einzelnen Staaten ist nicht etwa eine Abstraktion, sondern eine höchst concrete Thatsache, welche eben vermöge des Gemeindewesens alle Theile des gesammten Staatslebeus durchzieht, und auf jedem Punkte der Verwaltung zur Geltung gelangt, indem sie die Frage nach der inneren Freiheit, die Frage nach der organischen Theil- nahme des Volkes an seiner Verwaltung neben der seiner Theilnahme an der Verfassung zur Entscheidung bringt. Jetzt erst zeigt es sich in Europa, daß die Verfassung nur die Hälfte der Freiheit des Volkes ist, und daß eine verfassungsmäßige Freiheit ohne eine durchgebildete Selbstverwaltung doch zuletzt nur einen geringen Werth hat. Und dem entsprechend be- ginnt jetzt erst, wir möchten sagen instinktmäßig, die Hochachtung vor dem englischen Staatsleben, in welchem eben vermöge der früh entwickel- ten Grundentlastung die Selbstverwaltung so früh begonnen, und die ganze Organisation des Staats durchdrungen hat. Der Begriff und die Bedeutung des Selfgovernment wird dem Continent, und nament- lich den Deutschen erst nach der Grundentlastung verständlich, obgleich selbst die bedeutendsten Männer den wahren Zusammenhang, weßhalb ihre englischen Arbeiten so dankbar aufgenommen worden, nicht immer recht verstehen, und weßhalb andrerseits die gründlichsten Untersuchungen über die Grundentlastung für sich, wie die von Judeich, verhältnißmäßig unbeachtet vorübergehen. Das sind alles sehr natür- liche und wohlmotivirte Erscheinungen; denn der Geist jedes lebendigen Volkes ist stets der Zukunft zugewendet, und schätzt das, was ihr an- gehört, stets höher als das, was die Vergangenheit in der Gegen- wart aufrecht hält. In jedem Falle aber steht wohl das fest, daß wir nunmehr nicht einfach zur Darstellung der Grundentlastung an sich übergehen können. Wir müssen auch sie in ihrer individuellen Gestalt betrachten, und ihre Entwicklung je nach den Verhältnissen jedes einzelnen
Selbſtverwaltung ein wirklich verſchiedener in den verſchiedenen Ländern. Denn während die Grundentlaſtung einen Theil des geſellſchaftlichen Lebens der europäiſchen Völker bildet, das ſich, auf gleicher Grundlage entſtanden, auch gleichartig entwickelt, iſt die neue Stellung der Land- gemeinde der Ausdruck der ſtaatlichen Individualität, die ſich weſentlich in dem Verhältniß der Staatsverwaltung zur Selbſtverwaltung äußert. Daher dann die obwohl lange nicht genug beachtete, ſo doch überraſchende Erſcheinung, daß ſich die rechte Individualität des Staatslebens der europäiſchen Völker in der That erſt nach dem, mit der Grundent- laſtung definitiv entſchiedenen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts- ordnung herausbildet. Was eigentlich Deutſchland, England und Frankreich ihrer individuellen Natur nach ſind, das tritt erſt zu Tage, nachdem der Befreiungsproceß von der Geſchlechterherrſchaft abgeſchloſſen iſt. Und dieſe Individualität der einzelnen Staaten iſt nicht etwa eine Abſtraktion, ſondern eine höchſt concrete Thatſache, welche eben vermöge des Gemeindeweſens alle Theile des geſammten Staatslebeus durchzieht, und auf jedem Punkte der Verwaltung zur Geltung gelangt, indem ſie die Frage nach der inneren Freiheit, die Frage nach der organiſchen Theil- nahme des Volkes an ſeiner Verwaltung neben der ſeiner Theilnahme an der Verfaſſung zur Entſcheidung bringt. Jetzt erſt zeigt es ſich in Europa, daß die Verfaſſung nur die Hälfte der Freiheit des Volkes iſt, und daß eine verfaſſungsmäßige Freiheit ohne eine durchgebildete Selbſtverwaltung doch zuletzt nur einen geringen Werth hat. Und dem entſprechend be- ginnt jetzt erſt, wir möchten ſagen inſtinktmäßig, die Hochachtung vor dem engliſchen Staatsleben, in welchem eben vermöge der früh entwickel- ten Grundentlaſtung die Selbſtverwaltung ſo früh begonnen, und die ganze Organiſation des Staats durchdrungen hat. Der Begriff und die Bedeutung des Selfgovernment wird dem Continent, und nament- lich den Deutſchen erſt nach der Grundentlaſtung verſtändlich, obgleich ſelbſt die bedeutendſten Männer den wahren Zuſammenhang, weßhalb ihre engliſchen Arbeiten ſo dankbar aufgenommen worden, nicht immer recht verſtehen, und weßhalb andrerſeits die gründlichſten Unterſuchungen über die Grundentlaſtung für ſich, wie die von Judeich, verhältnißmäßig unbeachtet vorübergehen. Das ſind alles ſehr natür- liche und wohlmotivirte Erſcheinungen; denn der Geiſt jedes lebendigen Volkes iſt ſtets der Zukunft zugewendet, und ſchätzt das, was ihr an- gehört, ſtets höher als das, was die Vergangenheit in der Gegen- wart aufrecht hält. In jedem Falle aber ſteht wohl das feſt, daß wir nunmehr nicht einfach zur Darſtellung der Grundentlaſtung an ſich übergehen können. Wir müſſen auch ſie in ihrer individuellen Geſtalt betrachten, und ihre Entwicklung je nach den Verhältniſſen jedes einzelnen
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Selbſtverwaltung ein wirklich verſchiedener in den verſchiedenen Ländern.
Denn während die Grundentlaſtung einen Theil des geſellſchaftlichen
Lebens der europäiſchen Völker bildet, das ſich, auf gleicher Grundlage
entſtanden, auch gleichartig entwickelt, iſt die neue Stellung der Land-
gemeinde der Ausdruck der ſtaatlichen Individualität, die ſich weſentlich
in dem Verhältniß der Staatsverwaltung zur Selbſtverwaltung äußert.
Daher dann die obwohl lange nicht genug beachtete, ſo doch überraſchende
Erſcheinung, daß ſich die rechte Individualität des Staatslebens der
europäiſchen Völker in der That erſt nach dem, mit der Grundent-
laſtung definitiv entſchiedenen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
ordnung herausbildet. Was eigentlich Deutſchland, England und
Frankreich ihrer individuellen Natur nach ſind, das tritt erſt zu Tage,
nachdem der Befreiungsproceß von der Geſchlechterherrſchaft abgeſchloſſen
iſt. Und dieſe Individualität der einzelnen Staaten iſt nicht etwa eine
Abſtraktion, ſondern eine höchſt concrete Thatſache, welche eben vermöge
des Gemeindeweſens alle Theile des geſammten Staatslebeus durchzieht,
und auf jedem Punkte der Verwaltung zur Geltung gelangt, indem ſie
die Frage nach der inneren Freiheit, die Frage nach der organiſchen Theil-
nahme des Volkes an ſeiner Verwaltung neben der ſeiner Theilnahme an
der Verfaſſung zur Entſcheidung bringt. Jetzt erſt zeigt es ſich in Europa,
daß die Verfaſſung nur die Hälfte der Freiheit des Volkes iſt, und daß
eine verfaſſungsmäßige Freiheit ohne eine durchgebildete Selbſtverwaltung
doch zuletzt nur einen geringen Werth hat. Und dem entſprechend be-
ginnt jetzt erſt, wir möchten ſagen inſtinktmäßig, die Hochachtung vor
dem engliſchen Staatsleben, in welchem eben vermöge der früh entwickel-
ten Grundentlaſtung die Selbſtverwaltung ſo früh begonnen, und die
ganze Organiſation des Staats durchdrungen hat. Der Begriff und
die Bedeutung des Selfgovernment wird dem Continent, und nament-
lich den Deutſchen erſt nach der Grundentlaſtung verſtändlich,
obgleich ſelbſt die bedeutendſten Männer den wahren Zuſammenhang,
weßhalb ihre engliſchen Arbeiten ſo dankbar aufgenommen worden,
nicht immer recht verſtehen, und weßhalb andrerſeits die gründlichſten
Unterſuchungen über die Grundentlaſtung für ſich, wie die von Judeich,
verhältnißmäßig unbeachtet vorübergehen. Das ſind alles ſehr natür-
liche und wohlmotivirte Erſcheinungen; denn der Geiſt jedes lebendigen
Volkes iſt ſtets der Zukunft zugewendet, und ſchätzt das, was ihr an-
gehört, ſtets höher als das, was die Vergangenheit in der Gegen-
wart aufrecht hält. In jedem Falle aber ſteht wohl das feſt, daß wir
nunmehr nicht einfach zur Darſtellung der Grundentlaſtung an ſich
übergehen können. Wir müſſen auch ſie in ihrer individuellen Geſtalt
betrachten, und ihre Entwicklung je nach den Verhältniſſen jedes einzelnen
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/125>, abgerufen am 16.02.2025.
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