Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Volkes darstellen. Denn tief verschieden sind hier wie immer die
drei großen Culturvölker, und es ist eine der größten Erscheinungen
des europäischen Lebens, denselben großen historischen Gedanken in den
drei Ländern, welche an der Spitze der Civilisation der Welt stehen,
wenn auch nur in den Grundzügen seiner Entwicklung wirken zu sehen.
Die deutsche Wissenschaft aber wird, so lange sie ihre Beschränkung
auf Deutschland nicht aufgibt, und so lange sie sich begnügt, höchstens
die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu stellen,
nur den Körper, nicht aber den Geist der Wissenschaft der Geschichte zu
geben im Stande sein. Und wir wiederholen und werden wiederholen
diesen Kampf gegen die deutsche Beschränktheit auf diesem Gebiet, so
unbehaglich es auch vielen sein mag, das zu hören; denn die größere
Auffassung wird bei der Breite und Tiefe unserer deutschen geistigen
Kräfte und Strebungen doch siegen.



Von diesem Standpunkt aus wollen wir nun versuchen, die Ge-
schichte jenes Kampfes der staatsbürgerlichen Gesellschaft im Gebiete der
Entlastung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich
und Deutschland darzustellen, die allein wahrhaft große und historische
Individualitäten in der Geschichte auch dieser Rechtsbildung sind. An
sie schließen sich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns
zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen-
thümliches, sondern nur den allerdings oft höchst interessanten Reflex
der großen Bewegung darbieten, welche sich in den drei leitenden
Geschichtsvölkern individualisirt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf
die Europäische Rechtsgeschichte.

Englands Entlastungswesen.

Schon Englands Entlastungswesen zeigt uns, weßhalb es unthun-
lich ist, eine unmittelbare Vergleichung der Entlastung in den ver-
schiedenen Ländern Europas anzustellen; aber eben so sehr liefert es
den Beweis, daß dennoch hier ganz genau dieselben Grundverhältnisse
vorhanden, und dieselben Elemente wirksam gewesen sind.

Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben so reich
und schwierig ist als die deutsche und französische Geschichte der Ge-
schlechterunfreiheit, auf die oben aufgestellten großen europäischen Grund-
formen derselben und ihrer Geschichte. Und diese werden wir nun am
besten in drei Epochen theilen, von denen die erste die älteste Zeit bis
Karl II. enthält, und wesentlich in dem Uebergang der villenage zum

Volkes darſtellen. Denn tief verſchieden ſind hier wie immer die
drei großen Culturvölker, und es iſt eine der größten Erſcheinungen
des europäiſchen Lebens, denſelben großen hiſtoriſchen Gedanken in den
drei Ländern, welche an der Spitze der Civiliſation der Welt ſtehen,
wenn auch nur in den Grundzügen ſeiner Entwicklung wirken zu ſehen.
Die deutſche Wiſſenſchaft aber wird, ſo lange ſie ihre Beſchränkung
auf Deutſchland nicht aufgibt, und ſo lange ſie ſich begnügt, höchſtens
die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu ſtellen,
nur den Körper, nicht aber den Geiſt der Wiſſenſchaft der Geſchichte zu
geben im Stande ſein. Und wir wiederholen und werden wiederholen
dieſen Kampf gegen die deutſche Beſchränktheit auf dieſem Gebiet, ſo
unbehaglich es auch vielen ſein mag, das zu hören; denn die größere
Auffaſſung wird bei der Breite und Tiefe unſerer deutſchen geiſtigen
Kräfte und Strebungen doch ſiegen.



Von dieſem Standpunkt aus wollen wir nun verſuchen, die Ge-
ſchichte jenes Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gebiete der
Entlaſtung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich
und Deutſchland darzuſtellen, die allein wahrhaft große und hiſtoriſche
Individualitäten in der Geſchichte auch dieſer Rechtsbildung ſind. An
ſie ſchließen ſich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns
zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen-
thümliches, ſondern nur den allerdings oft höchſt intereſſanten Reflex
der großen Bewegung darbieten, welche ſich in den drei leitenden
Geſchichtsvölkern individualiſirt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf
die Europäiſche Rechtsgeſchichte.

Englands Entlaſtungsweſen.

Schon Englands Entlaſtungsweſen zeigt uns, weßhalb es unthun-
lich iſt, eine unmittelbare Vergleichung der Entlaſtung in den ver-
ſchiedenen Ländern Europas anzuſtellen; aber eben ſo ſehr liefert es
den Beweis, daß dennoch hier ganz genau dieſelben Grundverhältniſſe
vorhanden, und dieſelben Elemente wirkſam geweſen ſind.

Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben ſo reich
und ſchwierig iſt als die deutſche und franzöſiſche Geſchichte der Ge-
ſchlechterunfreiheit, auf die oben aufgeſtellten großen europäiſchen Grund-
formen derſelben und ihrer Geſchichte. Und dieſe werden wir nun am
beſten in drei Epochen theilen, von denen die erſte die älteſte Zeit bis
Karl II. enthält, und weſentlich in dem Uebergang der villenage zum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0126" n="108"/>
Volkes dar&#x017F;tellen. Denn tief ver&#x017F;chieden &#x017F;ind hier wie immer die<lb/>
drei großen Culturvölker, und es i&#x017F;t eine der größten Er&#x017F;cheinungen<lb/>
des europäi&#x017F;chen Lebens, den&#x017F;elben großen hi&#x017F;tori&#x017F;chen Gedanken in den<lb/>
drei Ländern, welche an der Spitze der Civili&#x017F;ation der Welt &#x017F;tehen,<lb/>
wenn auch nur in den Grundzügen &#x017F;einer Entwicklung wirken zu &#x017F;ehen.<lb/>
Die deut&#x017F;che Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft aber wird, &#x017F;o lange &#x017F;ie ihre Be&#x017F;chränkung<lb/>
auf Deut&#x017F;chland nicht aufgibt, und &#x017F;o lange &#x017F;ie &#x017F;ich begnügt, höch&#x017F;tens<lb/>
die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu &#x017F;tellen,<lb/>
nur den Körper, nicht aber den Gei&#x017F;t der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der Ge&#x017F;chichte zu<lb/>
geben im Stande &#x017F;ein. Und wir wiederholen und werden wiederholen<lb/>
die&#x017F;en Kampf gegen die deut&#x017F;che Be&#x017F;chränktheit auf die&#x017F;em Gebiet, &#x017F;o<lb/>
unbehaglich es auch vielen &#x017F;ein mag, das zu hören; denn die größere<lb/>
Auffa&#x017F;&#x017F;ung wird bei der Breite und Tiefe un&#x017F;erer deut&#x017F;chen gei&#x017F;tigen<lb/>
Kräfte und Strebungen <hi rendition="#g">doch</hi> &#x017F;iegen.</p><lb/>
                  <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
                  <p>Von die&#x017F;em Standpunkt aus wollen wir nun ver&#x017F;uchen, die Ge-<lb/>
&#x017F;chichte jenes Kampfes der &#x017F;taatsbürgerlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft im Gebiete der<lb/>
Entla&#x017F;tung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich<lb/>
und Deut&#x017F;chland darzu&#x017F;tellen, die allein wahrhaft große und hi&#x017F;tori&#x017F;che<lb/>
Individualitäten in der Ge&#x017F;chichte auch die&#x017F;er Rechtsbildung &#x017F;ind. An<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chließen &#x017F;ich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns<lb/>
zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen-<lb/>
thümliches, &#x017F;ondern nur den allerdings oft höch&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;anten Reflex<lb/>
der großen Bewegung darbieten, welche &#x017F;ich in den drei leitenden<lb/>
Ge&#x017F;chichtsvölkern individuali&#x017F;irt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf<lb/>
die <hi rendition="#g">Europäi&#x017F;che Rechtsge&#x017F;chichte</hi>.</p>
                </div>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#b">Englands Entla&#x017F;tungswe&#x017F;en.</hi> </head><lb/>
                <p>Schon Englands Entla&#x017F;tungswe&#x017F;en zeigt uns, weßhalb es unthun-<lb/>
lich i&#x017F;t, eine unmittelbare Vergleichung der <choice><sic>Entla&#x017F;tnng</sic><corr>Entla&#x017F;tung</corr></choice> in den ver-<lb/>
&#x017F;chiedenen Ländern Europas anzu&#x017F;tellen; aber eben &#x017F;o &#x017F;ehr liefert es<lb/>
den Beweis, daß dennoch hier ganz genau die&#x017F;elben Grundverhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
vorhanden, und die&#x017F;elben Elemente wirk&#x017F;am gewe&#x017F;en &#x017F;ind.</p><lb/>
                <p>Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben &#x017F;o reich<lb/>
und &#x017F;chwierig i&#x017F;t als die deut&#x017F;che und franzö&#x017F;i&#x017F;che Ge&#x017F;chichte der Ge-<lb/>
&#x017F;chlechterunfreiheit, auf die oben aufge&#x017F;tellten großen europäi&#x017F;chen Grund-<lb/>
formen der&#x017F;elben und ihrer Ge&#x017F;chichte. Und die&#x017F;e werden wir nun am<lb/>
be&#x017F;ten in drei Epochen theilen, von denen die er&#x017F;te die älte&#x017F;te Zeit bis<lb/>
Karl <hi rendition="#aq">II.</hi> enthält, und we&#x017F;entlich in dem Uebergang der <hi rendition="#aq">villenage</hi> zum<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0126] Volkes darſtellen. Denn tief verſchieden ſind hier wie immer die drei großen Culturvölker, und es iſt eine der größten Erſcheinungen des europäiſchen Lebens, denſelben großen hiſtoriſchen Gedanken in den drei Ländern, welche an der Spitze der Civiliſation der Welt ſtehen, wenn auch nur in den Grundzügen ſeiner Entwicklung wirken zu ſehen. Die deutſche Wiſſenſchaft aber wird, ſo lange ſie ihre Beſchränkung auf Deutſchland nicht aufgibt, und ſo lange ſie ſich begnügt, höchſtens die fremden Entwicklungen unvermittelt neben die eigene zu ſtellen, nur den Körper, nicht aber den Geiſt der Wiſſenſchaft der Geſchichte zu geben im Stande ſein. Und wir wiederholen und werden wiederholen dieſen Kampf gegen die deutſche Beſchränktheit auf dieſem Gebiet, ſo unbehaglich es auch vielen ſein mag, das zu hören; denn die größere Auffaſſung wird bei der Breite und Tiefe unſerer deutſchen geiſtigen Kräfte und Strebungen doch ſiegen. Von dieſem Standpunkt aus wollen wir nun verſuchen, die Ge- ſchichte jenes Kampfes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft im Gebiete der Entlaſtung nach den drei großen Culturvölkern England, Frankreich und Deutſchland darzuſtellen, die allein wahrhaft große und hiſtoriſche Individualitäten in der Geſchichte auch dieſer Rechtsbildung ſind. An ſie ſchließen ſich dann die kleineren Staaten an, die zu verfolgen uns zu weit führen würde, die aber auch eigentlich wenig wahrhaft Eigen- thümliches, ſondern nur den allerdings oft höchſt intereſſanten Reflex der großen Bewegung darbieten, welche ſich in den drei leitenden Geſchichtsvölkern individualiſirt. Ihre weitere Verarbeitung wartet auf die Europäiſche Rechtsgeſchichte. Englands Entlaſtungsweſen. Schon Englands Entlaſtungsweſen zeigt uns, weßhalb es unthun- lich iſt, eine unmittelbare Vergleichung der Entlaſtung in den ver- ſchiedenen Ländern Europas anzuſtellen; aber eben ſo ſehr liefert es den Beweis, daß dennoch hier ganz genau dieſelben Grundverhältniſſe vorhanden, und dieſelben Elemente wirkſam geweſen ſind. Wie reduciren daher dieß Gebiet, das im Einzelnen eben ſo reich und ſchwierig iſt als die deutſche und franzöſiſche Geſchichte der Ge- ſchlechterunfreiheit, auf die oben aufgeſtellten großen europäiſchen Grund- formen derſelben und ihrer Geſchichte. Und dieſe werden wir nun am beſten in drei Epochen theilen, von denen die erſte die älteſte Zeit bis Karl II. enthält, und weſentlich in dem Uebergang der villenage zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/126
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/126>, abgerufen am 24.11.2024.