Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter- erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter- esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yelo der wesentlichere Teil ist, geht daraus hervor, dass sie yelo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich, der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit "Blitz" anstatt mit "Donner".
Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für "Vogel", das wahrscheinlich "geflügelt" bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder tono-, der bei den Bakairi noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa- geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern Namen und der allgemeinere Begriff "Papagei" fehlt vollständig, ebenso wie der Begriff "Palme" fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein- heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich- artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer Gliederung.
Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakairi-Idylle etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6
Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter- erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter- esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist, geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich, der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«.
Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich »geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder tono-, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa- geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein- heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich- artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer Gliederung.
Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0111"n="81"/>
Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter-<lb/>
erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter-<lb/>
esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn<lb/>
sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in<lb/>
einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort <hirendition="#i">yélo</hi> der wesentlichere Teil ist,<lb/>
geht daraus hervor, dass sie <hirendition="#i">yélo</hi> auch das brummende Schwirrholz nennen; ich,<lb/>
der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der<lb/>
Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden<lb/>
Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«.</p><lb/><p>Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen<lb/>
wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich<lb/>
»geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm <hirendition="#i">toro-</hi> oder<lb/><hirendition="#i">tono-</hi>, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa-<lb/>
geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern<lb/>
Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der<lb/>
Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und<lb/>
Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass<lb/>
sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht<lb/>
bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein-<lb/>
heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch<lb/>
bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber<lb/>
im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem<lb/>
Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich-<lb/>
artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer<lb/>
Gliederung.</p><lb/><p>Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den<lb/>
Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte<lb/>
ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den<lb/>
Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den<lb/>
Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle<lb/>
etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für<lb/>
die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es<lb/>
auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="sig">v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6</fw><lb/></body></text></TEI>
[81/0111]
Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter-
erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter-
esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn
sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in
einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist,
geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich,
der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der
Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden
Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«.
Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen
wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich
»geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder
tono-, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa-
geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern
Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der
Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und
Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass
sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht
bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein-
heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch
bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber
im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem
Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich-
artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer
Gliederung.
Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den
Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte
ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den
Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den
Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle
etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für
die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es
auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.
v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/111>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.