Ruhe schmeckte doppelt süss im Genuss der stillen Schadenfreude, wenn draussen in unheimlicher Nähe mit unzufriedenem Diminuendo und drohendem Crescendo die feine Musik ertönte. So schrieb, zeichnete, rechnete, faulenzte man unter seinem Moskiteiro. Die nächtlichen Beobachtungen wurden zuweilen unangenehm beeinträchtigt; da tanzten denn Vogel und mein ihm assistirender Vetter vor dem dreibeinigen Theodolithen einen Tanz der Verzweiflung auf und nieder, während sie durch das Fernrohr schauten und die Ziffern niederschrieben. Respekt auch vor der niederträchtigsten kleinsten Art, dem "mosquito polvora". Sie ist winzig, fast unsichtbar und dringt unbehindert durch die Gazemaschen des Mos- kiteiros, ihr Stich -- ich weiss nicht, ob mehr ätzend oder juckend -- verwirrt die Sinne, in Schweiss gebadet wirft man sich umher und wütend reibt man erst und kratzt dann, trotz des Bewusstseins, für ein paar Sekunden der Erleichterung eine wochenlang schwärende Haut einzutauschen.
Schmerzhaft, und zwar so, dass auch ein Phlegmatiker mit einem Schrei in die Höhe springt, ist der Stich der Mutuka-Bremse. Aber auch sie kommt eigentlich erst für die Rückreise in Betracht. In hohem Grade lästig waren die kleinen Fliegen, die unsere Leute "Lambe-olhos", Augenlecker, nannten; nur gehörten sie, wie die von den Blättern herabgeschüttelten Carapatos: Zecken, die sich in die Haut einbohren und Blut saugend zu Knötchen anschwellen, und die am Abend verschwindenden Borrachudos: Stechfliegen, deren Stich kleine schwarze Pünktchen von Blutgerinnsel in der Haut zurücklässt, eher zu den Plagen des Marsches als zu denen des Lagers. Die Lambe-olhos -- wahrscheinlich beachtete man die Tierchen nur bei dieser Richtung ihres Angriffs -- schienen es ganz allein auf die Augen, und, was ich ihnen sehr übel nahm, ganz besonders auf meine Augen abgesehen zu haben, und endlich, was am schlimmsten war, sie schienen den Raum unter dem Oberlid zu bevorzugen, sodass man schleunigst mit verkniffenem Gesicht den lieben Nächsten zu Hülfe rief und bei dem schwierigen Fall gewöhnlich von einer Hand in die andere wandern musste.
Der unliebsame Besuch der Kupims, Termiten, und der wahren Herren des Urwalds, der Ameisen, galt weniger uns als unserm Nachtsack und den Ledersachen. Glücklicher Weise wurden die Gäste meist noch rechtzeitig am Abend bemerkt, da man durch den Schaden und die lästige Arbeit des Auspackens, Schüttelns, Sengens und Reinigens bald so klug geworden war, vor dem Schlafengehen noch einmal nachzusehen. Zumal der Ruf "Carregadores" veranlasste immer einen kleinen Alarm: wer sie auf seinem Platz entdeckte, flüchtete sich mit seiner gesamten Habe, und Alles sprang besorgt aus den Hängematten, um die Gepäckstücke zu untersuchen. Diese nächtlich arbeitenden "Lastträger"-Ameisen oder Schlepper- ameisen, eine Atta-Art, die auf ihrem Zuge relativ ungeheure Lasten weg- schleppen, haben Augen von fast Erbsengrösse und machen mit ihren starken Zangen scharfe halbmondförmige Einschnitte in Tuch und Leinen; ihre Wohnstätte umfasst ein grosses Terrain, und die zahllosen Gänge sollen bis 3 m tief in die Erde reichen. Mehr interessant als gefährlich, da sie Niemanden von uns etwas
Ruhe schmeckte doppelt süss im Genuss der stillen Schadenfreude, wenn draussen in unheimlicher Nähe mit unzufriedenem Diminuendo und drohendem Crescendo die feine Musik ertönte. So schrieb, zeichnete, rechnete, faulenzte man unter seinem Moskiteiro. Die nächtlichen Beobachtungen wurden zuweilen unangenehm beeinträchtigt; da tanzten denn Vogel und mein ihm assistirender Vetter vor dem dreibeinigen Theodolithen einen Tanz der Verzweiflung auf und nieder, während sie durch das Fernrohr schauten und die Ziffern niederschrieben. Respekt auch vor der niederträchtigsten kleinsten Art, dem »mosquito pólvora«. Sie ist winzig, fast unsichtbar und dringt unbehindert durch die Gazemaschen des Mos- kiteiros, ihr Stich — ich weiss nicht, ob mehr ätzend oder juckend — verwirrt die Sinne, in Schweiss gebadet wirft man sich umher und wütend reibt man erst und kratzt dann, trotz des Bewusstseins, für ein paar Sekunden der Erleichterung eine wochenlang schwärende Haut einzutauschen.
Schmerzhaft, und zwar so, dass auch ein Phlegmatiker mit einem Schrei in die Höhe springt, ist der Stich der Mutuka-Bremse. Aber auch sie kommt eigentlich erst für die Rückreise in Betracht. In hohem Grade lästig waren die kleinen Fliegen, die unsere Leute »Lambe-olhos«, Augenlecker, nannten; nur gehörten sie, wie die von den Blättern herabgeschüttelten Carapatos: Zecken, die sich in die Haut einbohren und Blut saugend zu Knötchen anschwellen, und die am Abend verschwindenden Borrachudos: Stechfliegen, deren Stich kleine schwarze Pünktchen von Blutgerinnsel in der Haut zurücklässt, eher zu den Plagen des Marsches als zu denen des Lagers. Die Lambe-olhos — wahrscheinlich beachtete man die Tierchen nur bei dieser Richtung ihres Angriffs — schienen es ganz allein auf die Augen, und, was ich ihnen sehr übel nahm, ganz besonders auf meine Augen abgesehen zu haben, und endlich, was am schlimmsten war, sie schienen den Raum unter dem Oberlid zu bevorzugen, sodass man schleunigst mit verkniffenem Gesicht den lieben Nächsten zu Hülfe rief und bei dem schwierigen Fall gewöhnlich von einer Hand in die andere wandern musste.
Der unliebsame Besuch der Kupims, Termiten, und der wahren Herren des Urwalds, der Ameisen, galt weniger uns als unserm Nachtsack und den Ledersachen. Glücklicher Weise wurden die Gäste meist noch rechtzeitig am Abend bemerkt, da man durch den Schaden und die lästige Arbeit des Auspackens, Schüttelns, Sengens und Reinigens bald so klug geworden war, vor dem Schlafengehen noch einmal nachzusehen. Zumal der Ruf »Carregadores« veranlasste immer einen kleinen Alarm: wer sie auf seinem Platz entdeckte, flüchtete sich mit seiner gesamten Habe, und Alles sprang besorgt aus den Hängematten, um die Gepäckstücke zu untersuchen. Diese nächtlich arbeitenden »Lastträger«-Ameisen oder Schlepper- ameisen, eine Atta-Art, die auf ihrem Zuge relativ ungeheure Lasten weg- schleppen, haben Augen von fast Erbsengrösse und machen mit ihren starken Zangen scharfe halbmondförmige Einschnitte in Tuch und Leinen; ihre Wohnstätte umfasst ein grosses Terrain, und die zahllosen Gänge sollen bis 3 m tief in die Erde reichen. Mehr interessant als gefährlich, da sie Niemanden von uns etwas
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Ruhe schmeckte doppelt süss im Genuss der stillen Schadenfreude, wenn draussen
in unheimlicher Nähe mit unzufriedenem Diminuendo und drohendem Crescendo
die feine Musik ertönte. So schrieb, zeichnete, rechnete, faulenzte man unter
seinem Moskiteiro. Die nächtlichen Beobachtungen wurden zuweilen unangenehm
beeinträchtigt; da tanzten denn Vogel und mein ihm assistirender Vetter vor
dem dreibeinigen Theodolithen einen Tanz der Verzweiflung auf und nieder,
während sie durch das Fernrohr schauten und die Ziffern niederschrieben. Respekt
auch vor der niederträchtigsten kleinsten Art, dem »mosquito pólvora«. Sie ist
winzig, fast unsichtbar und dringt unbehindert durch die Gazemaschen des Mos-
kiteiros, ihr Stich — ich weiss nicht, ob mehr ätzend oder juckend — verwirrt
die Sinne, in Schweiss gebadet wirft man sich umher und wütend reibt man erst
und kratzt dann, trotz des Bewusstseins, für ein paar Sekunden der Erleichterung
eine wochenlang schwärende Haut einzutauschen.
Schmerzhaft, und zwar so, dass auch ein Phlegmatiker mit einem Schrei in
die Höhe springt, ist der Stich der Mutuka-Bremse. Aber auch sie kommt
eigentlich erst für die Rückreise in Betracht. In hohem Grade lästig waren die
kleinen Fliegen, die unsere Leute »Lambe-olhos«, Augenlecker, nannten; nur
gehörten sie, wie die von den Blättern herabgeschüttelten Carapatos: Zecken, die
sich in die Haut einbohren und Blut saugend zu Knötchen anschwellen, und die
am Abend verschwindenden Borrachudos: Stechfliegen, deren Stich kleine schwarze
Pünktchen von Blutgerinnsel in der Haut zurücklässt, eher zu den Plagen des
Marsches als zu denen des Lagers. Die Lambe-olhos — wahrscheinlich beachtete
man die Tierchen nur bei dieser Richtung ihres Angriffs — schienen es ganz
allein auf die Augen, und, was ich ihnen sehr übel nahm, ganz besonders auf
meine Augen abgesehen zu haben, und endlich, was am schlimmsten war, sie
schienen den Raum unter dem Oberlid zu bevorzugen, sodass man schleunigst
mit verkniffenem Gesicht den lieben Nächsten zu Hülfe rief und bei dem
schwierigen Fall gewöhnlich von einer Hand in die andere wandern musste.
Der unliebsame Besuch der Kupims, Termiten, und der wahren Herren des
Urwalds, der Ameisen, galt weniger uns als unserm Nachtsack und den Ledersachen.
Glücklicher Weise wurden die Gäste meist noch rechtzeitig am Abend bemerkt, da
man durch den Schaden und die lästige Arbeit des Auspackens, Schüttelns, Sengens
und Reinigens bald so klug geworden war, vor dem Schlafengehen noch einmal
nachzusehen. Zumal der Ruf »Carregadores« veranlasste immer einen kleinen
Alarm: wer sie auf seinem Platz entdeckte, flüchtete sich mit seiner gesamten
Habe, und Alles sprang besorgt aus den Hängematten, um die Gepäckstücke zu
untersuchen. Diese nächtlich arbeitenden »Lastträger«-Ameisen oder Schlepper-
ameisen, eine Atta-Art, die auf ihrem Zuge relativ ungeheure Lasten weg-
schleppen, haben Augen von fast Erbsengrösse und machen mit ihren starken
Zangen scharfe halbmondförmige Einschnitte in Tuch und Leinen; ihre Wohnstätte
umfasst ein grosses Terrain, und die zahllosen Gänge sollen bis 3 m tief in die
Erde reichen. Mehr interessant als gefährlich, da sie Niemanden von uns etwas
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/60>, abgerufen am 27.11.2024.
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