der Schmerz und die Trauer, der Spott, das Gelächter und der Hohn, die Trennung und die Hoffnung und das Wiedersehen u. s. w. u. s. w., das sind lauter Thätigkeiten in der Bewegung -- und doch Substantiva!
Das Adjectivum soll nach Becker in der Mitte stehen zwi- schen Verbum und Substantivum (§. 31. S. 101.): "es ist ent- weder ein gewissermaßen substantivisch gewordenes Verb, oder ein verbal gewordenes Substantiv". Und weiter (das.): "Das Adjectiv z. B. wach, laut, drückt eben so wie das Verb wach-et, laut-et, eine Thätigkeit, und weil alle Thätigkeit in der Sprache als Thätigkeit eines Seins gedacht wird, eine ausgesagte (prä- dicirte) Thätigkeit aus; es unterscheidet sich aber von dem Verb wesentlich dadurch, daß es nur die ausgesagte Thätigkeit, und nicht, wie das Verb auch die Aussage ausdrückt. Dieser Unterschied der Bedeutung tritt auf eine sehr bestimmte Weise in der Flexion des Verbs und Adjectivs hervor: die Flexion des Adjectivs z. B. ein blanker Degen, mit blankem Golde be- zeichnet durch die Congruenz die Einheit der ausgesagten (prä- dicirten) Thätigkeit mit dem Sein; die Flexion des Verbs hin- gegen z. B. der Degen blinkt drückt die Aussage selbst (das Urtheil) aus ... Da nun alle Begriffe des Seins in den Sub- stantiven als ein in eine prädicirte Thätigkeit aufgenommenes Sein gedacht und dargestellt werden; so steht das Adjectiv als der Ausdruck einer prädicirten Thätigkeit dem Substantiv sehr nahe und geht leicht in ein Substantiv über".
Das ist alles falsch. Daß wach, laut Thätigkeiten ausdrü- cken, muß Becker wohl annehmen; denn wenn wir ihm sagten, daß sie einen Zustand bezeichnen, so hat er ja für etwas, was weder Sein noch Thätigkeit ist, keinen Raum. Er würde uns sagen (S. 83. §. 28.): "Auch die Begriffe von Zuständen der Ruhe und Unthätigkeit, wie stehen, sitzen, liegen, schlafen, müs- sen im Gegensatze zu den Begriffen des Seins als Thätigkeits- begriffe aufgefaßt werden, welche von dem Begriffe der Bewe- gung abgeleitet sind -- als eine Bewegung, welche durch die ihr in entgegengesetzter Richtung entgegentretende Bewe- gung gehemmt wird". Das mag physisch und metaphysisch und sogar sprachlich wahr sein; da man aber Zustandswörter von Thätigkeiten abgeleitet hat, so drückte man eben damit aus, daß man sie von ihnen unterscheiden wolle. Das Sprach- gefühl unterscheidet auch leicht zwischen einem neutralen und
der Schmerz und die Trauer, der Spott, das Gelächter und der Hohn, die Trennung und die Hoffnung und das Wiedersehen u. s. w. u. s. w., das sind lauter Thätigkeiten in der Bewegung — und doch Substantiva!
Das Adjectivum soll nach Becker in der Mitte stehen zwi- schen Verbum und Substantivum (§. 31. S. 101.): „es ist ent- weder ein gewissermaßen substantivisch gewordenes Verb, oder ein verbal gewordenes Substantiv“. Und weiter (das.): „Das Adjectiv z. B. wach, laut, drückt eben so wie das Verb wach-et, laut-et, eine Thätigkeit, und weil alle Thätigkeit in der Sprache als Thätigkeit eines Seins gedacht wird, eine ausgesagte (prä- dicirte) Thätigkeit aus; es unterscheidet sich aber von dem Verb wesentlich dadurch, daß es nur die ausgesagte Thätigkeit, und nicht, wie das Verb auch die Aussage ausdrückt. Dieser Unterschied der Bedeutung tritt auf eine sehr bestimmte Weise in der Flexion des Verbs und Adjectivs hervor: die Flexion des Adjectivs z. B. ein blanker Degen, mit blankem Golde be- zeichnet durch die Congruenz die Einheit der ausgesagten (prä- dicirten) Thätigkeit mit dem Sein; die Flexion des Verbs hin- gegen z. B. der Degen blinkt drückt die Aussage selbst (das Urtheil) aus … Da nun alle Begriffe des Seins in den Sub- stantiven als ein in eine prädicirte Thätigkeit aufgenommenes Sein gedacht und dargestellt werden; so steht das Adjectiv als der Ausdruck einer prädicirten Thätigkeit dem Substantiv sehr nahe und geht leicht in ein Substantiv über“.
Das ist alles falsch. Daß wach, laut Thätigkeiten ausdrü- cken, muß Becker wohl annehmen; denn wenn wir ihm sagten, daß sie einen Zustand bezeichnen, so hat er ja für etwas, was weder Sein noch Thätigkeit ist, keinen Raum. Er würde uns sagen (S. 83. §. 28.): „Auch die Begriffe von Zuständen der Ruhe und Unthätigkeit, wie stehen, sitzen, liegen, schlafen, müs- sen im Gegensatze zu den Begriffen des Seins als Thätigkeits- begriffe aufgefaßt werden, welche von dem Begriffe der Bewe- gung abgeleitet sind — als eine Bewegung, welche durch die ihr in entgegengesetzter Richtung entgegentretende Bewe- gung gehemmt wird“. Das mag physisch und metaphysisch und sogar sprachlich wahr sein; da man aber Zustandswörter von Thätigkeiten abgeleitet hat, so drückte man eben damit aus, daß man sie von ihnen unterscheiden wolle. Das Sprach- gefühl unterscheidet auch leicht zwischen einem neutralen und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0250"n="212"/>
der Schmerz und die Trauer, der Spott, das Gelächter und der<lb/>
Hohn, die Trennung und die Hoffnung und das Wiedersehen<lb/>
u. s. w. u. s. w., das sind lauter Thätigkeiten in der Bewegung<lb/>— und doch Substantiva!</p><lb/><p>Das Adjectivum soll nach Becker in der Mitte stehen zwi-<lb/>
schen Verbum und Substantivum (§. 31. S. 101.): „es ist ent-<lb/>
weder ein gewissermaßen substantivisch gewordenes Verb, oder<lb/>
ein verbal gewordenes Substantiv“. Und weiter (das.): „Das<lb/>
Adjectiv z. B. <hirendition="#i">wach</hi>, <hirendition="#i">laut,</hi> drückt eben so wie das Verb <hirendition="#i">wach-et,<lb/>
laut-et</hi>, eine Thätigkeit, und weil alle Thätigkeit in der Sprache<lb/>
als Thätigkeit eines Seins gedacht wird, eine <hirendition="#i">ausgesagte</hi> (prä-<lb/>
dicirte) Thätigkeit aus; es unterscheidet sich aber von dem<lb/>
Verb wesentlich dadurch, daß es nur die ausgesagte Thätigkeit,<lb/>
und nicht, wie das Verb auch die Aussage ausdrückt. Dieser<lb/>
Unterschied der Bedeutung tritt auf eine sehr bestimmte Weise<lb/>
in der Flexion des Verbs und Adjectivs hervor: die Flexion<lb/>
des Adjectivs z. B. <hirendition="#i">ein blanker Degen, mit blankem Golde</hi> be-<lb/>
zeichnet durch die Congruenz die Einheit der ausgesagten (prä-<lb/>
dicirten) Thätigkeit mit dem Sein; die Flexion des Verbs hin-<lb/>
gegen z. B. <hirendition="#i">der Degen blinkt</hi> drückt die Aussage selbst (das<lb/>
Urtheil) aus … Da nun alle Begriffe des Seins in den Sub-<lb/>
stantiven als ein in eine prädicirte Thätigkeit aufgenommenes<lb/>
Sein gedacht und dargestellt werden; so steht das Adjectiv als<lb/>
der Ausdruck einer prädicirten Thätigkeit dem Substantiv sehr<lb/>
nahe und geht leicht in ein Substantiv über“.</p><lb/><p>Das ist alles falsch. Daß <hirendition="#i">wach</hi>, <hirendition="#i">laut</hi> Thätigkeiten ausdrü-<lb/>
cken, muß Becker wohl annehmen; denn wenn wir ihm sagten,<lb/>
daß sie einen Zustand bezeichnen, so hat er ja für etwas, was<lb/>
weder Sein noch Thätigkeit ist, keinen Raum. Er würde uns<lb/>
sagen (S. 83. §. 28.): „Auch die Begriffe von Zuständen der<lb/>
Ruhe und Unthätigkeit, wie stehen, sitzen, liegen, schlafen, müs-<lb/>
sen im Gegensatze zu den Begriffen des Seins als Thätigkeits-<lb/>
begriffe aufgefaßt werden, welche von dem Begriffe der <hirendition="#g">Bewe-<lb/>
gung abgeleitet</hi> sind — als eine Bewegung, welche durch<lb/>
die ihr in entgegengesetzter Richtung entgegentretende Bewe-<lb/>
gung gehemmt wird“. Das mag physisch und metaphysisch und<lb/>
sogar sprachlich wahr sein; da man aber Zustandswörter von<lb/>
Thätigkeiten <hirendition="#g">abgeleitet</hi> hat, so drückte man eben damit aus,<lb/>
daß man sie von ihnen <hirendition="#g">unterscheiden</hi> wolle. Das Sprach-<lb/>
gefühl unterscheidet auch leicht zwischen einem neutralen und<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[212/0250]
der Schmerz und die Trauer, der Spott, das Gelächter und der
Hohn, die Trennung und die Hoffnung und das Wiedersehen
u. s. w. u. s. w., das sind lauter Thätigkeiten in der Bewegung
— und doch Substantiva!
Das Adjectivum soll nach Becker in der Mitte stehen zwi-
schen Verbum und Substantivum (§. 31. S. 101.): „es ist ent-
weder ein gewissermaßen substantivisch gewordenes Verb, oder
ein verbal gewordenes Substantiv“. Und weiter (das.): „Das
Adjectiv z. B. wach, laut, drückt eben so wie das Verb wach-et,
laut-et, eine Thätigkeit, und weil alle Thätigkeit in der Sprache
als Thätigkeit eines Seins gedacht wird, eine ausgesagte (prä-
dicirte) Thätigkeit aus; es unterscheidet sich aber von dem
Verb wesentlich dadurch, daß es nur die ausgesagte Thätigkeit,
und nicht, wie das Verb auch die Aussage ausdrückt. Dieser
Unterschied der Bedeutung tritt auf eine sehr bestimmte Weise
in der Flexion des Verbs und Adjectivs hervor: die Flexion
des Adjectivs z. B. ein blanker Degen, mit blankem Golde be-
zeichnet durch die Congruenz die Einheit der ausgesagten (prä-
dicirten) Thätigkeit mit dem Sein; die Flexion des Verbs hin-
gegen z. B. der Degen blinkt drückt die Aussage selbst (das
Urtheil) aus … Da nun alle Begriffe des Seins in den Sub-
stantiven als ein in eine prädicirte Thätigkeit aufgenommenes
Sein gedacht und dargestellt werden; so steht das Adjectiv als
der Ausdruck einer prädicirten Thätigkeit dem Substantiv sehr
nahe und geht leicht in ein Substantiv über“.
Das ist alles falsch. Daß wach, laut Thätigkeiten ausdrü-
cken, muß Becker wohl annehmen; denn wenn wir ihm sagten,
daß sie einen Zustand bezeichnen, so hat er ja für etwas, was
weder Sein noch Thätigkeit ist, keinen Raum. Er würde uns
sagen (S. 83. §. 28.): „Auch die Begriffe von Zuständen der
Ruhe und Unthätigkeit, wie stehen, sitzen, liegen, schlafen, müs-
sen im Gegensatze zu den Begriffen des Seins als Thätigkeits-
begriffe aufgefaßt werden, welche von dem Begriffe der Bewe-
gung abgeleitet sind — als eine Bewegung, welche durch
die ihr in entgegengesetzter Richtung entgegentretende Bewe-
gung gehemmt wird“. Das mag physisch und metaphysisch und
sogar sprachlich wahr sein; da man aber Zustandswörter von
Thätigkeiten abgeleitet hat, so drückte man eben damit aus,
daß man sie von ihnen unterscheiden wolle. Das Sprach-
gefühl unterscheidet auch leicht zwischen einem neutralen und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/250>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.