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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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neben einander bestehen, wie Kreis und roth; und es beweist
schon ein Mißverstehen des wahren Verhältnisses, wenn man
die Sprache an der Logik messen will, sei es um ihre Ueber-
einstimmung mit dieser, sei es, um ihren Widerstreit gegen die-
selbe zu erweisen.

Die Stoiker behaupteten, die Sprache sei anomal; d. h.
nämlich, indem sie die Sprache nach dem Maßstabe der Logik
beurtheilten, fanden sie, daß die Sprache bei solcher Messung
nicht Stich hielt. Die Aristarchianer, wozu sämmtliche moderne
Philologen -- Humboldt ausgenommen; auch Buttmann wußte
von Aristarchs Schwäche -- und Becker mit den Beckerianern
gehören, behaupteten im Gegentheil, die Sprache sei nicht ano-
mal, sie sei analog, logisch geformt, und man müsse nur den
logischen Maßstab recht zu handhaben wissen. Die einen sind
so unlogisch, wie die andern; sie irren beide. Wie es mit Be-
ckers Grammatik stehe, der Spitze der analogetischen Schule
Aristarchs, das haben wir ausführlich genug gezeigt; dem Ano-
malisten aber, der sich darüber aufhält, daß man die ewigen
Götter unsterblich nenne, was völlig gegen die Logik sei, dem
ist zu erwidern, daß es gerade eben so unlogisch ist, die Sprache
anomal zu nennen, sie, die sich um den nomos der Logik nicht
kümmert.

Es ist echt logisch und organisch, daß die Sprache unlo-
gisch ist.

Die beste Analogie zur Sprache bietet allemal die Kunst:
sie haben beide das wesentlichste Merkmal gemeinsam, die Dar-
stellung. Die Kunst stellt die Wirklichkeit dar, die Sprache
den Gedanken. Nun ist es aber doch ein gemeiner Fehler, die
Wirklichkeit zum Maßstabe des Kunstwerks zu machen, in der
vollendeten Kunst nur das getreue Abbild der Wirklichkeit zu
sehen und nach dieser Treue den Werth des Kunstwerks zu be-
stimmen. Man begeht aber ganz denselben Fehler, wenn man
in der Sprache, als der Darstellung des Gedankens, nur ein Abbild
desselben sieht. Wie weit steht die Oper von der Wirklichkeit ab,
welche sie darstellt! darum ist sie in sich nicht unlogisch, nicht
unwahr. Und so ist auch die Sprache in sich vernünftig und
wahr, obwohl sie die Logik nicht in sich faßt.

Ferner: die Malerei stellt Körper dar, aber -- wie unlo-
gisch! -- in der Fläche, oder sie zeigt die Fläche als Körper.
Wer die drei Dimensionen kennt, weiß noch nichts von Schat-

neben einander bestehen, wie Kreis und roth; und es beweist
schon ein Mißverstehen des wahren Verhältnisses, wenn man
die Sprache an der Logik messen will, sei es um ihre Ueber-
einstimmung mit dieser, sei es, um ihren Widerstreit gegen die-
selbe zu erweisen.

Die Stoiker behaupteten, die Sprache sei anomal; d. h.
nämlich, indem sie die Sprache nach dem Maßstabe der Logik
beurtheilten, fanden sie, daß die Sprache bei solcher Messung
nicht Stich hielt. Die Aristarchianer, wozu sämmtliche moderne
Philologen — Humboldt ausgenommen; auch Buttmann wußte
von Aristarchs Schwäche — und Becker mit den Beckerianern
gehören, behaupteten im Gegentheil, die Sprache sei nicht ano-
mal, sie sei analog, logisch geformt, und man müsse nur den
logischen Maßstab recht zu handhaben wissen. Die einen sind
so unlogisch, wie die andern; sie irren beide. Wie es mit Be-
ckers Grammatik stehe, der Spitze der analogetischen Schule
Aristarchs, das haben wir ausführlich genug gezeigt; dem Ano-
malisten aber, der sich darüber aufhält, daß man die ewigen
Götter unsterblich nenne, was völlig gegen die Logik sei, dem
ist zu erwidern, daß es gerade eben so unlogisch ist, die Sprache
anomal zu nennen, sie, die sich um den νόμος der Logik nicht
kümmert.

Es ist echt logisch und organisch, daß die Sprache unlo-
gisch ist.

Die beste Analogie zur Sprache bietet allemal die Kunst:
sie haben beide das wesentlichste Merkmal gemeinsam, die Dar-
stellung. Die Kunst stellt die Wirklichkeit dar, die Sprache
den Gedanken. Nun ist es aber doch ein gemeiner Fehler, die
Wirklichkeit zum Maßstabe des Kunstwerks zu machen, in der
vollendeten Kunst nur das getreue Abbild der Wirklichkeit zu
sehen und nach dieser Treue den Werth des Kunstwerks zu be-
stimmen. Man begeht aber ganz denselben Fehler, wenn man
in der Sprache, als der Darstellung des Gedankens, nur ein Abbild
desselben sieht. Wie weit steht die Oper von der Wirklichkeit ab,
welche sie darstellt! darum ist sie in sich nicht unlogisch, nicht
unwahr. Und so ist auch die Sprache in sich vernünftig und
wahr, obwohl sie die Logik nicht in sich faßt.

Ferner: die Malerei stellt Körper dar, aber — wie unlo-
gisch! — in der Fläche, oder sie zeigt die Fläche als Körper.
Wer die drei Dimensionen kennt, weiß noch nichts von Schat-

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[222/0260] neben einander bestehen, wie Kreis und roth; und es beweist schon ein Mißverstehen des wahren Verhältnisses, wenn man die Sprache an der Logik messen will, sei es um ihre Ueber- einstimmung mit dieser, sei es, um ihren Widerstreit gegen die- selbe zu erweisen. Die Stoiker behaupteten, die Sprache sei anomal; d. h. nämlich, indem sie die Sprache nach dem Maßstabe der Logik beurtheilten, fanden sie, daß die Sprache bei solcher Messung nicht Stich hielt. Die Aristarchianer, wozu sämmtliche moderne Philologen — Humboldt ausgenommen; auch Buttmann wußte von Aristarchs Schwäche — und Becker mit den Beckerianern gehören, behaupteten im Gegentheil, die Sprache sei nicht ano- mal, sie sei analog, logisch geformt, und man müsse nur den logischen Maßstab recht zu handhaben wissen. Die einen sind so unlogisch, wie die andern; sie irren beide. Wie es mit Be- ckers Grammatik stehe, der Spitze der analogetischen Schule Aristarchs, das haben wir ausführlich genug gezeigt; dem Ano- malisten aber, der sich darüber aufhält, daß man die ewigen Götter unsterblich nenne, was völlig gegen die Logik sei, dem ist zu erwidern, daß es gerade eben so unlogisch ist, die Sprache anomal zu nennen, sie, die sich um den νόμος der Logik nicht kümmert. Es ist echt logisch und organisch, daß die Sprache unlo- gisch ist. Die beste Analogie zur Sprache bietet allemal die Kunst: sie haben beide das wesentlichste Merkmal gemeinsam, die Dar- stellung. Die Kunst stellt die Wirklichkeit dar, die Sprache den Gedanken. Nun ist es aber doch ein gemeiner Fehler, die Wirklichkeit zum Maßstabe des Kunstwerks zu machen, in der vollendeten Kunst nur das getreue Abbild der Wirklichkeit zu sehen und nach dieser Treue den Werth des Kunstwerks zu be- stimmen. Man begeht aber ganz denselben Fehler, wenn man in der Sprache, als der Darstellung des Gedankens, nur ein Abbild desselben sieht. Wie weit steht die Oper von der Wirklichkeit ab, welche sie darstellt! darum ist sie in sich nicht unlogisch, nicht unwahr. Und so ist auch die Sprache in sich vernünftig und wahr, obwohl sie die Logik nicht in sich faßt. Ferner: die Malerei stellt Körper dar, aber — wie unlo- gisch! — in der Fläche, oder sie zeigt die Fläche als Körper. Wer die drei Dimensionen kennt, weiß noch nichts von Schat-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/260>, abgerufen am 22.11.2024.