hat; und so bildet sich selbst in der Befriedigung diese Sehn- sucht, welche die menschliche Seele zur endlosen Entwicke- lung treibt.
Endlich haben wir noch der Geselligkeit zu gedenken. Daß dieselbe ein unentbehrliches Mittel der Seelenentwickelung ist, sie, auf der Wetteifer, Bereicherung durch Mittheilung, Ueber- lieferung auf folgende Geschlechter, also Einheit aller Seelen- thätigkeit des ganzen Menschengeschlechts beruht, im Gegen- satze zur Zersplitterung der Thierarten in vereinzelt lebende und über ihr Leben hinaus nicht fortwirkende Individuen: das braucht kaum angedeutet zu werden. Aber woher rührt sie? Auch ist die Geselligkeit nicht allen Thierarten fremd. Ganz fremd ist sie sogar keiner Art. Alle Thiere derselben Art erkennen sich als solche, spielen und arbeiten wohl zusammen, gehen zu- sammen auf Nahrung aus. Die sogenannten Raubthiere thun dies wohl weniger. Sie, die doch wohl am meisten gegensei- tiger Hülfe bedürften, schließen sich am meisten ab, weil sie sich bei der Theilung der Raubes nicht vertragen würden. So viel Rücksicht aber schenkt dennoch jedes Raubthier dem In- dividuum seiner Art, daß es dasselbe nicht anfällt, um sich ein- fach an ihm zu sättigen. Ein hungriger Wolf wird jedes lebende Wesen, dem er begegnet, angreifen, aber keinen Wolf. Auch der Mensch ist Egoist genug, daß er leicht, seiner gemeinen Natur folgend, zerstreut und vereinzelt gelebt haben würde, nicht, wie etwa der Elephant, in Gruppen und Haufen. Die Vorse- hung aber hat ihn durch gewisse Einrichtungen auf den Weg der Geselligkeit geleitet. Es ist nicht die Schwäche der Men- schen überhaupt, welche sie an einander knüpft. Der Mensch ist nicht so schwach, um nicht auch vereinzelt leben zu können; und Rücksicht auf Vortheil, d. h. Egoismus, wie sollte der im Stande sein, Verbindung, Gesellschaft zu erhalten! Aber die Schwäche des neugeborenen Menschen, seine lange Kindheit, unterhält lange Zeit den rein natürlichen Affect elterlicher Liebe, knüpft zwischen Kind und Eltern ein durch Gewohnheit vieler Jahre fest geschlungenes und fest gewebtes Band. Mit der Reife der jüngsten Kinder fällt der Beginn der Altersschwäche der Eltern zusammen, und das Band knüpft sich in umgekehrter Weise von neuem. Auch mischen sich in das zunächst rein na- türliche instinctive Gefühl der Eltern- und Kindesliebe sehr bald ethische Elemente, die ja schon das Thier kennt. So entstehen
hat; und so bildet sich selbst in der Befriedigung diese Sehn- sucht, welche die menschliche Seele zur endlosen Entwicke- lung treibt.
Endlich haben wir noch der Geselligkeit zu gedenken. Daß dieselbe ein unentbehrliches Mittel der Seelenentwickelung ist, sie, auf der Wetteifer, Bereicherung durch Mittheilung, Ueber- lieferung auf folgende Geschlechter, also Einheit aller Seelen- thätigkeit des ganzen Menschengeschlechts beruht, im Gegen- satze zur Zersplitterung der Thierarten in vereinzelt lebende und über ihr Leben hinaus nicht fortwirkende Individuen: das braucht kaum angedeutet zu werden. Aber woher rührt sie? Auch ist die Geselligkeit nicht allen Thierarten fremd. Ganz fremd ist sie sogar keiner Art. Alle Thiere derselben Art erkennen sich als solche, spielen und arbeiten wohl zusammen, gehen zu- sammen auf Nahrung aus. Die sogenannten Raubthiere thun dies wohl weniger. Sie, die doch wohl am meisten gegensei- tiger Hülfe bedürften, schließen sich am meisten ab, weil sie sich bei der Theilung der Raubes nicht vertragen würden. So viel Rücksicht aber schenkt dennoch jedes Raubthier dem In- dividuum seiner Art, daß es dasselbe nicht anfällt, um sich ein- fach an ihm zu sättigen. Ein hungriger Wolf wird jedes lebende Wesen, dem er begegnet, angreifen, aber keinen Wolf. Auch der Mensch ist Egoist genug, daß er leicht, seiner gemeinen Natur folgend, zerstreut und vereinzelt gelebt haben würde, nicht, wie etwa der Elephant, in Gruppen und Haufen. Die Vorse- hung aber hat ihn durch gewisse Einrichtungen auf den Weg der Geselligkeit geleitet. Es ist nicht die Schwäche der Men- schen überhaupt, welche sie an einander knüpft. Der Mensch ist nicht so schwach, um nicht auch vereinzelt leben zu können; und Rücksicht auf Vortheil, d. h. Egoismus, wie sollte der im Stande sein, Verbindung, Gesellschaft zu erhalten! Aber die Schwäche des neugeborenen Menschen, seine lange Kindheit, unterhält lange Zeit den rein natürlichen Affect elterlicher Liebe, knüpft zwischen Kind und Eltern ein durch Gewohnheit vieler Jahre fest geschlungenes und fest gewebtes Band. Mit der Reife der jüngsten Kinder fällt der Beginn der Altersschwäche der Eltern zusammen, und das Band knüpft sich in umgekehrter Weise von neuem. Auch mischen sich in das zunächst rein na- türliche instinctive Gefühl der Eltern- und Kindesliebe sehr bald ethische Elemente, die ja schon das Thier kennt. So entstehen
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hat; und so bildet sich selbst in der Befriedigung diese Sehn-
sucht, welche die menschliche Seele zur endlosen Entwicke-
lung treibt.
Endlich haben wir noch der Geselligkeit zu gedenken. Daß
dieselbe ein unentbehrliches Mittel der Seelenentwickelung ist,
sie, auf der Wetteifer, Bereicherung durch Mittheilung, Ueber-
lieferung auf folgende Geschlechter, also Einheit aller Seelen-
thätigkeit des ganzen Menschengeschlechts beruht, im Gegen-
satze zur Zersplitterung der Thierarten in vereinzelt lebende und
über ihr Leben hinaus nicht fortwirkende Individuen: das braucht
kaum angedeutet zu werden. Aber woher rührt sie? Auch
ist die Geselligkeit nicht allen Thierarten fremd. Ganz fremd
ist sie sogar keiner Art. Alle Thiere derselben Art erkennen
sich als solche, spielen und arbeiten wohl zusammen, gehen zu-
sammen auf Nahrung aus. Die sogenannten Raubthiere thun
dies wohl weniger. Sie, die doch wohl am meisten gegensei-
tiger Hülfe bedürften, schließen sich am meisten ab, weil sie
sich bei der Theilung der Raubes nicht vertragen würden. So
viel Rücksicht aber schenkt dennoch jedes Raubthier dem In-
dividuum seiner Art, daß es dasselbe nicht anfällt, um sich ein-
fach an ihm zu sättigen. Ein hungriger Wolf wird jedes lebende
Wesen, dem er begegnet, angreifen, aber keinen Wolf. Auch
der Mensch ist Egoist genug, daß er leicht, seiner gemeinen
Natur folgend, zerstreut und vereinzelt gelebt haben würde, nicht,
wie etwa der Elephant, in Gruppen und Haufen. Die Vorse-
hung aber hat ihn durch gewisse Einrichtungen auf den Weg
der Geselligkeit geleitet. Es ist nicht die Schwäche der Men-
schen überhaupt, welche sie an einander knüpft. Der Mensch
ist nicht so schwach, um nicht auch vereinzelt leben zu können;
und Rücksicht auf Vortheil, d. h. Egoismus, wie sollte der im
Stande sein, Verbindung, Gesellschaft zu erhalten! Aber die
Schwäche des neugeborenen Menschen, seine lange Kindheit,
unterhält lange Zeit den rein natürlichen Affect elterlicher Liebe,
knüpft zwischen Kind und Eltern ein durch Gewohnheit vieler
Jahre fest geschlungenes und fest gewebtes Band. Mit der Reife
der jüngsten Kinder fällt der Beginn der Altersschwäche der
Eltern zusammen, und das Band knüpft sich in umgekehrter
Weise von neuem. Auch mischen sich in das zunächst rein na-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/326>, abgerufen am 22.11.2024.
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