sogleich Familienbande, gewebt aus Liebe, Dankbarkeit, Vereh- rung, ja religiösem Gottesgefühl.
So bilden sich nun Familientraditionen. Die lange Kind- heit des Menschen begünstigt den Unterricht; der Mensch hat lange Lehrjahre, und ehe der Geschlechtstrieb erwacht, hat er in sorglosem Leben schon eine bedeutende Bildung und Selb- ständigkeit der Seele erlangt, deren weitere Entwickelung nun durch die Geschlechtsreife mehr gefördert, als gehemmt wird. Das Thier gelangt zu dieser Reife schnell; seine Kindheit ist kurz, und kaum hat es angefangen zu lernen, so hat es die wei- tere Lernfähigkeit verloren.
Der menschliche Körper ist schwächer, als der thierische, und dennoch hat er mehr Lebensdauer, ist weniger abhängig von den Einflüssen der Elemente. Die längere Dauer des Le- bens ist vorzüglich wichtig. Der Mensch hat lange gelernt; nun bleibt ihm aber noch drei-, vier-, fünfmal so viel Zeit, um das Erlernte zu bereichern durch eigene Entdeckung und Erfindung und selbst wieder zu lehren und später mit dem Lehrling zu- sammen als Gesellen zu arbeiten.
Aus alle dem jedoch würde vielleicht nur folgen, daß die Menschen familienweise in Höhlen zerstreut wohnten, wenn nicht in des Menschen Brust noch ein besonderer Drang zur Gesel- ligkeit lebte. Herbart bemerkt, wiewohl in einem andern Zu- sammenhange (Psych. §. 135. Werke VI, S. 244.): "Das Kind weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht bloß seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der unbekannten, eine Hem- mung erleiden, die sich auf die Vorstellung von seiner eigenen Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hemmung im Dunkeln; er singt, er spricht, er schreiet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge." Diese Bemerkung wird gewiß jeder aus eigener Erfahrung be- stätigen. Aber das Kind weint, selbst in der elterlichen Stube, wenn man es allein läßt; und auch Herangewachsenen ist nicht bloß die Dunkelheit, sondern auch, und vielleicht noch mehr, die Einsamkeit drückend. Die Seele verlangt einen ungehemm- ten Fluß der Vorstellung. Ist dieser Fluß weniger lebendig, wird er matt, so fühlt man drückende Langeweile; man verlangt von außen her Anregung, man sucht Gesellschaft. Denn das
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sogleich Familienbande, gewebt aus Liebe, Dankbarkeit, Vereh- rung, ja religiösem Gottesgefühl.
So bilden sich nun Familientraditionen. Die lange Kind- heit des Menschen begünstigt den Unterricht; der Mensch hat lange Lehrjahre, und ehe der Geschlechtstrieb erwacht, hat er in sorglosem Leben schon eine bedeutende Bildung und Selb- ständigkeit der Seele erlangt, deren weitere Entwickelung nun durch die Geschlechtsreife mehr gefördert, als gehemmt wird. Das Thier gelangt zu dieser Reife schnell; seine Kindheit ist kurz, und kaum hat es angefangen zu lernen, so hat es die wei- tere Lernfähigkeit verloren.
Der menschliche Körper ist schwächer, als der thierische, und dennoch hat er mehr Lebensdauer, ist weniger abhängig von den Einflüssen der Elemente. Die längere Dauer des Le- bens ist vorzüglich wichtig. Der Mensch hat lange gelernt; nun bleibt ihm aber noch drei-, vier-, fünfmal so viel Zeit, um das Erlernte zu bereichern durch eigene Entdeckung und Erfindung und selbst wieder zu lehren und später mit dem Lehrling zu- sammen als Gesellen zu arbeiten.
Aus alle dem jedoch würde vielleicht nur folgen, daß die Menschen familienweise in Höhlen zerstreut wohnten, wenn nicht in des Menschen Brust noch ein besonderer Drang zur Gesel- ligkeit lebte. Herbart bemerkt, wiewohl in einem andern Zu- sammenhange (Psych. §. 135. Werke VI, S. 244.): „Das Kind weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht bloß seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der unbekannten, eine Hem- mung erleiden, die sich auf die Vorstellung von seiner eigenen Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hemmung im Dunkeln; er singt, er spricht, er schreiet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge.“ Diese Bemerkung wird gewiß jeder aus eigener Erfahrung be- stätigen. Aber das Kind weint, selbst in der elterlichen Stube, wenn man es allein läßt; und auch Herangewachsenen ist nicht bloß die Dunkelheit, sondern auch, und vielleicht noch mehr, die Einsamkeit drückend. Die Seele verlangt einen ungehemm- ten Fluß der Vorstellung. Ist dieser Fluß weniger lebendig, wird er matt, so fühlt man drückende Langeweile; man verlangt von außen her Anregung, man sucht Gesellschaft. Denn das
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sogleich Familienbande, gewebt aus Liebe, Dankbarkeit, Vereh-
rung, ja religiösem Gottesgefühl.
So bilden sich nun Familientraditionen. Die lange Kind-
heit des Menschen begünstigt den Unterricht; der Mensch hat
lange Lehrjahre, und ehe der Geschlechtstrieb erwacht, hat er
in sorglosem Leben schon eine bedeutende Bildung und Selb-
ständigkeit der Seele erlangt, deren weitere Entwickelung nun
durch die Geschlechtsreife mehr gefördert, als gehemmt wird.
Das Thier gelangt zu dieser Reife schnell; seine Kindheit ist
kurz, und kaum hat es angefangen zu lernen, so hat es die wei-
tere Lernfähigkeit verloren.
Der menschliche Körper ist schwächer, als der thierische,
und dennoch hat er mehr Lebensdauer, ist weniger abhängig
von den Einflüssen der Elemente. Die längere Dauer des Le-
bens ist vorzüglich wichtig. Der Mensch hat lange gelernt; nun
bleibt ihm aber noch drei-, vier-, fünfmal so viel Zeit, um das
Erlernte zu bereichern durch eigene Entdeckung und Erfindung
und selbst wieder zu lehren und später mit dem Lehrling zu-
sammen als Gesellen zu arbeiten.
Aus alle dem jedoch würde vielleicht nur folgen, daß die
Menschen familienweise in Höhlen zerstreut wohnten, wenn nicht
in des Menschen Brust noch ein besonderer Drang zur Gesel-
ligkeit lebte. Herbart bemerkt, wiewohl in einem andern Zu-
sammenhange (Psych. §. 135. Werke VI, S. 244.): „Das Kind
weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt, nicht
bloß seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die Vorstellungen
der bekannten Umgebung jetzt, in der unbekannten, eine Hem-
mung erleiden, die sich auf die Vorstellung von seiner eigenen
Person fortpflanzt. Selbst der mehr herangewachsene Mensch
empfindet eine ähnliche Hemmung im Dunkeln; er singt, er
spricht, er schreiet, um etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu
haben, das mit der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge.“
Diese Bemerkung wird gewiß jeder aus eigener Erfahrung be-
stätigen. Aber das Kind weint, selbst in der elterlichen Stube,
wenn man es allein läßt; und auch Herangewachsenen ist nicht
bloß die Dunkelheit, sondern auch, und vielleicht noch mehr,
die Einsamkeit drückend. Die Seele verlangt einen ungehemm-
ten Fluß der Vorstellung. Ist dieser Fluß weniger lebendig,
wird er matt, so fühlt man drückende Langeweile; man verlangt
von außen her Anregung, man sucht Gesellschaft. Denn das
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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