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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬
serem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬
beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten,
ließen sich diese nicht von ihrem Geschäfte abhalten, flo¬
gen herzu, und nährten in unserer Gegenwart die Kinder.

"Ich habe euch jezt Nester gezeigt, die noch bevöl¬
kert sind," sagte mein Gastfreund, "die meisten sind
schon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten
herum, und übt sich zur Herbstreise. Die Nester sind
zahlreicher, als man vermuthet, wir besuchen nur die,
die uns bei der Hand sind."

Indessen war Gustav mit der verlangten Larve
gekommen, und gab sie dem alten Manne in die Hand.
Dieser ging zu der Hecke, in welcher das Nest des
Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg
daneben. Kaum hatte er sich entfernt, und war
zu uns getreten, die wir in der Nähe standen, so
schlüpfte das Rothkehlchen unter den untersten Ästen
der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm sie, und
lief wieder in die Hecke zurück.

Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬
sem Vorfalle überkam. Mein Gastfreund erschien mir
wie ein weiser Mann, der sich zu einem niedreren Ge¬
schöpfe herabläßt.

warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬
ſerem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬
beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten,
ließen ſich dieſe nicht von ihrem Geſchäfte abhalten, flo¬
gen herzu, und nährten in unſerer Gegenwart die Kinder.

„Ich habe euch jezt Neſter gezeigt, die noch bevöl¬
kert ſind,“ ſagte mein Gaſtfreund, „die meiſten ſind
ſchon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten
herum, und übt ſich zur Herbſtreiſe. Die Neſter ſind
zahlreicher, als man vermuthet, wir beſuchen nur die,
die uns bei der Hand ſind.“

Indeſſen war Guſtav mit der verlangten Larve
gekommen, und gab ſie dem alten Manne in die Hand.
Dieſer ging zu der Hecke, in welcher das Neſt des
Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg
daneben. Kaum hatte er ſich entfernt, und war
zu uns getreten, die wir in der Nähe ſtanden, ſo
ſchlüpfte das Rothkehlchen unter den unterſten Äſten
der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm ſie, und
lief wieder in die Hecke zurück.

Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬
ſem Vorfalle überkam. Mein Gaſtfreund erſchien mir
wie ein weiſer Mann, der ſich zu einem niedreren Ge¬
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[251/0265] warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬ ſerem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬ beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten, ließen ſich dieſe nicht von ihrem Geſchäfte abhalten, flo¬ gen herzu, und nährten in unſerer Gegenwart die Kinder. „Ich habe euch jezt Neſter gezeigt, die noch bevöl¬ kert ſind,“ ſagte mein Gaſtfreund, „die meiſten ſind ſchon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten herum, und übt ſich zur Herbſtreiſe. Die Neſter ſind zahlreicher, als man vermuthet, wir beſuchen nur die, die uns bei der Hand ſind.“ Indeſſen war Guſtav mit der verlangten Larve gekommen, und gab ſie dem alten Manne in die Hand. Dieſer ging zu der Hecke, in welcher das Neſt des Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg daneben. Kaum hatte er ſich entfernt, und war zu uns getreten, die wir in der Nähe ſtanden, ſo ſchlüpfte das Rothkehlchen unter den unterſten Äſten der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm ſie, und lief wieder in die Hecke zurück. Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬ ſem Vorfalle überkam. Mein Gaſtfreund erſchien mir wie ein weiſer Mann, der ſich zu einem niedreren Ge¬ ſchöpfe herabläßt.

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/265>, abgerufen am 21.11.2024.