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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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chern liesest, so liesest du das Herz des Dichters und
das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch
an Werthe tief unter dem des Dichters steht, für
dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein
Mutterherz ist. Wenn ich an Stellen lesen werde, die
ich unterstrichen habe, werde ich denken, hier erinnert
er sich an seine Mutter, und wenn meine Augen über
Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬
kungen niedergeschrieben habe, wird mir dein Auge
vorschweben, welches hier von dem Gedruckten zu
dem Geschriebenen sehen, und die Schriftzüge von
Einer vor sich haben wird, die deine beste Freundin
auf der Erde ist. So werden die Bücher immer ein
Band zwischen uns sein, wo wir uns auch befinden.
Deine Schwester Natalie ist bei mir, sie hört öfter
als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe
Stimme, und sehe ihr freundliches Angesicht."

"Nein, nein Mutter," sagte Gustav, "ich kann die
Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie."

"Natalie wird schon etwas anderes bekommen,"
antwortete die Mutter. "Daß du mich nicht beraubst,
habe ich dir schon erklärt, und es war seit längerer
Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir diese
Bücher geben werde."

chern lieſeſt, ſo lieſeſt du das Herz des Dichters und
das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch
an Werthe tief unter dem des Dichters ſteht, für
dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein
Mutterherz iſt. Wenn ich an Stellen leſen werde, die
ich unterſtrichen habe, werde ich denken, hier erinnert
er ſich an ſeine Mutter, und wenn meine Augen über
Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬
kungen niedergeſchrieben habe, wird mir dein Auge
vorſchweben, welches hier von dem Gedruckten zu
dem Geſchriebenen ſehen, und die Schriftzüge von
Einer vor ſich haben wird, die deine beſte Freundin
auf der Erde iſt. So werden die Bücher immer ein
Band zwiſchen uns ſein, wo wir uns auch befinden.
Deine Schweſter Natalie iſt bei mir, ſie hört öfter
als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe
Stimme, und ſehe ihr freundliches Angeſicht.“

„Nein, nein Mutter,“ ſagte Guſtav, „ich kann die
Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie.“

„Natalie wird ſchon etwas anderes bekommen,“
antwortete die Mutter. „Daß du mich nicht beraubſt,
habe ich dir ſchon erklärt, und es war ſeit längerer
Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir dieſe
Bücher geben werde.“

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[389/0403] chern lieſeſt, ſo lieſeſt du das Herz des Dichters und das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch an Werthe tief unter dem des Dichters ſteht, für dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein Mutterherz iſt. Wenn ich an Stellen leſen werde, die ich unterſtrichen habe, werde ich denken, hier erinnert er ſich an ſeine Mutter, und wenn meine Augen über Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬ kungen niedergeſchrieben habe, wird mir dein Auge vorſchweben, welches hier von dem Gedruckten zu dem Geſchriebenen ſehen, und die Schriftzüge von Einer vor ſich haben wird, die deine beſte Freundin auf der Erde iſt. So werden die Bücher immer ein Band zwiſchen uns ſein, wo wir uns auch befinden. Deine Schweſter Natalie iſt bei mir, ſie hört öfter als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe Stimme, und ſehe ihr freundliches Angeſicht.“ „Nein, nein Mutter,“ ſagte Guſtav, „ich kann die Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie.“ „Natalie wird ſchon etwas anderes bekommen,“ antwortete die Mutter. „Daß du mich nicht beraubſt, habe ich dir ſchon erklärt, und es war ſeit längerer Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir dieſe Bücher geben werde.“

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/403>, abgerufen am 05.06.2024.