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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu
beweisen, oder unsere Meinung zu widerlegen, auch
an andern Stellen Untersuchungen. Wir fingen an
Stellen an, welche ohnehin ein wenig schadhaft wa¬
ren, und gingen nach und nach zu anderen über. Wir
beobachteten zulezt gar nicht mehr so genau die Vor¬
sichten, die wir uns am Anfange auferlegt hatten,
und kamen zu dem Ergebnisse, daß an zahlreichen
Stellen unter dem Gipse der Gestalt weißer Marmor
sei. Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen
Stellen, auch den nicht untersuchten, der Gips über
Marmor liege. Das große Gewicht der Gestalt war
nicht der lezte Grund unserer Vermuthung. Durch
welchen Zufall oder durch welch seltsames Beginnen
die Marmorgestalt mit Gips könne überzogen worden
sein, war uns unerklärlich. Am wahrscheinlichsten
däuchte uns, daß es einmal irgend ein Besizer gethan
habe, damit ein fremder Feind, der etwa seine Wohn¬
stadt und ihre Kunstwerke bedrohte, die Gestalt als
aus werthlosem Stoffe bestehend nicht mit sich fort
nehme. Weil nun doch der Feind die Gestalt genom¬
men habe, oder weil ein anderer hindernder Umstand
eingetreten sei, habe die Decke nicht mehr weggenom¬
men werden können, und der edle Kern habe undenk¬

Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu
beweiſen, oder unſere Meinung zu widerlegen, auch
an andern Stellen Unterſuchungen. Wir fingen an
Stellen an, welche ohnehin ein wenig ſchadhaft wa¬
ren, und gingen nach und nach zu anderen über. Wir
beobachteten zulezt gar nicht mehr ſo genau die Vor¬
ſichten, die wir uns am Anfange auferlegt hatten,
und kamen zu dem Ergebniſſe, daß an zahlreichen
Stellen unter dem Gipſe der Geſtalt weißer Marmor
ſei. Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen
Stellen, auch den nicht unterſuchten, der Gips über
Marmor liege. Das große Gewicht der Geſtalt war
nicht der lezte Grund unſerer Vermuthung. Durch
welchen Zufall oder durch welch ſeltſames Beginnen
die Marmorgeſtalt mit Gips könne überzogen worden
ſein, war uns unerklärlich. Am wahrſcheinlichſten
däuchte uns, daß es einmal irgend ein Beſizer gethan
habe, damit ein fremder Feind, der etwa ſeine Wohn¬
ſtadt und ihre Kunſtwerke bedrohte, die Geſtalt als
aus werthloſem Stoffe beſtehend nicht mit ſich fort
nehme. Weil nun doch der Feind die Geſtalt genom¬
men habe, oder weil ein anderer hindernder Umſtand
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[117/0131] Nun begannen wir, um das Unglaubliche völlig zu beweiſen, oder unſere Meinung zu widerlegen, auch an andern Stellen Unterſuchungen. Wir fingen an Stellen an, welche ohnehin ein wenig ſchadhaft wa¬ ren, und gingen nach und nach zu anderen über. Wir beobachteten zulezt gar nicht mehr ſo genau die Vor¬ ſichten, die wir uns am Anfange auferlegt hatten, und kamen zu dem Ergebniſſe, daß an zahlreichen Stellen unter dem Gipſe der Geſtalt weißer Marmor ſei. Der Schluß war nun erklärlich, daß an allen Stellen, auch den nicht unterſuchten, der Gips über Marmor liege. Das große Gewicht der Geſtalt war nicht der lezte Grund unſerer Vermuthung. Durch welchen Zufall oder durch welch ſeltſames Beginnen die Marmorgeſtalt mit Gips könne überzogen worden ſein, war uns unerklärlich. Am wahrſcheinlichſten däuchte uns, daß es einmal irgend ein Beſizer gethan habe, damit ein fremder Feind, der etwa ſeine Wohn¬ ſtadt und ihre Kunſtwerke bedrohte, die Geſtalt als aus werthloſem Stoffe beſtehend nicht mit ſich fort nehme. Weil nun doch der Feind die Geſtalt genom¬ men habe, oder weil ein anderer hindernder Umſtand eingetreten ſei, habe die Decke nicht mehr weggenom¬ men werden können, und der edle Kern habe undenk¬

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/131>, abgerufen am 21.11.2024.