"Das werde ich nicht thun, Mutter," entgegnete Natalie, "aber lasse mich gehen, es ist ein Wunsch in mir, so zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich nicht beunruhigest. Ich möchte auf dem Fel¬ derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen, und alles darin beschauen und betrachten. Und die Ruhe schließt dann so schön das Gemüth und den Willen ab."
Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬ ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit sich er¬ hizt habe, zeigte ihr Angesicht. Dasselbe behielt die Röthe, welche es nach dem ersten Erblassen erhalten hatte, und verlor sie nur in geringem Maße, während sie an dem Tische saß, was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieses Roth wie ein sanftes Licht auf ihren Wangen, und verschönerte sie gleichsam wie ein klarer Schimmer.
Sie fuhr in ihrem Geschäfte mit den Blumen fort, sie legte eine nach der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß der größere wurde, der größere aber sich immer ver¬ kleinerte. Sie schied keine einzige Blume aus, sie
„Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬ derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen, und alles darin beſchauen und betrachten. Und die Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den Willen ab.“
Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬ ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬ hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie ein klarer Schimmer.
Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬ kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0320"n="306"/><p>„Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete<lb/>
Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in<lb/>
mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie<lb/>
ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß<lb/>
du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬<lb/>
derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und<lb/>
in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen,<lb/>
und alles darin beſchauen und betrachten. Und die<lb/>
Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den<lb/>
Willen ab.“</p><lb/><p>Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬<lb/>
ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬<lb/>
hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die<lb/>
Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten<lb/>
hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während<lb/>ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit<lb/>
dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht<lb/>
auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie<lb/>
ein klarer Schimmer.</p><lb/><p>Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen<lb/>
fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren<lb/>
Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß<lb/>
der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬<lb/>
kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[306/0320]
„Das werde ich nicht thun, Mutter,“ entgegnete
Natalie, „aber laſſe mich gehen, es iſt ein Wunſch in
mir, ſo zu verfahren. Ich werde ihn mäßigen, wie
ich kann; ich thue es um deinetwillen, Mutter, daß
du dich nicht beunruhigeſt. Ich möchte auf dem Fel¬
derhügel herum gehen, dann auch in dem Thale und
in dem Walde, ich möchte auch in dem Lande gehen,
und alles darin beſchauen und betrachten. Und die
Ruhe ſchließt dann ſo ſchön das Gemüth und den
Willen ab.“
Daß Natalie doch durch das Wandeln in der hei¬
ßen Sonne unmittelbar vor der Mittagszeit ſich er¬
hizt habe, zeigte ihr Angeſicht. Dasſelbe behielt die
Röthe, welche es nach dem erſten Erblaſſen erhalten
hatte, und verlor ſie nur in geringem Maße, während
ſie an dem Tiſche ſaß, was doch eine geraume Zeit
dauerte. Es blühte dieſes Roth wie ein ſanftes Licht
auf ihren Wangen, und verſchönerte ſie gleichſam wie
ein klarer Schimmer.
Sie fuhr in ihrem Geſchäfte mit den Blumen
fort, ſie legte eine nach der andern von dem größeren
Strauße zu dem kleineren, bis der kleinere Strauß
der größere wurde, der größere aber ſich immer ver¬
kleinerte. Sie ſchied keine einzige Blume aus, ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/320>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.