Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

schlechtes und in bei Anschauung mancher Völker und
ihres Treibens gefunden. Natalie ist dadurch befe¬
stigt veredelt und geglättet worden. Manche junge
Männer hat sie kennen gelernt, aber sie hat nie ein
Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte sehr
glänzende Verbindungen sind auf diese Weise für
sie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge
gehabt, wenn ich unter unseren jungen Männern
hätte wählen müssen. Als ihr zum ersten Male an
dem Gitter meines Hauses standet, und ich euch sah,
dachte ich: "das ist vielleicht der Gatte für Natalien."
Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte
ich es wieder, wußte aber warum. Natalie sah
euch, und liebte euch, so wie ihr sie. Wir kannten
das Keimen der gegenseitigen Neigung. Bei Na¬
talien trat sie Anfangs in einem höheren Schwunge
ihres ganzen Wesens später in einer etwas schmerz¬
lichen Unruhe auf. In euch erschloß sie euer Herz
zu einer früheren Blüthe der Kunst und zu einem Ein¬
gehen in die tieferen Schäze der Wissenschaft. Wir
warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit
und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten
wir absichtlich Natalien zwei Winter nicht in die
Stadt, daß sie von euch getrennt sei, ja sie wurde

ſchlechtes und in bei Anſchauung mancher Völker und
ihres Treibens gefunden. Natalie iſt dadurch befe¬
ſtigt veredelt und geglättet worden. Manche junge
Männer hat ſie kennen gelernt, aber ſie hat nie ein
Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte ſehr
glänzende Verbindungen ſind auf dieſe Weiſe für
ſie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge
gehabt, wenn ich unter unſeren jungen Männern
hätte wählen müſſen. Als ihr zum erſten Male an
dem Gitter meines Hauſes ſtandet, und ich euch ſah,
dachte ich: „das iſt vielleicht der Gatte für Natalien.“
Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte
ich es wieder, wußte aber warum. Natalie ſah
euch, und liebte euch, ſo wie ihr ſie. Wir kannten
das Keimen der gegenſeitigen Neigung. Bei Na¬
talien trat ſie Anfangs in einem höheren Schwunge
ihres ganzen Weſens ſpäter in einer etwas ſchmerz¬
lichen Unruhe auf. In euch erſchloß ſie euer Herz
zu einer früheren Blüthe der Kunſt und zu einem Ein¬
gehen in die tieferen Schäze der Wiſſenſchaft. Wir
warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit
und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten
wir abſichtlich Natalien zwei Winter nicht in die
Stadt, daß ſie von euch getrennt ſei, ja ſie wurde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0365" n="351"/>
&#x017F;chlechtes und in bei An&#x017F;chauung mancher Völker und<lb/>
ihres Treibens gefunden. Natalie i&#x017F;t dadurch befe¬<lb/>
&#x017F;tigt veredelt und geglättet worden. Manche junge<lb/>
Männer hat &#x017F;ie kennen gelernt, aber &#x017F;ie hat nie ein<lb/>
Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte &#x017F;ehr<lb/>
glänzende Verbindungen &#x017F;ind auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e für<lb/>
&#x017F;ie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge<lb/>
gehabt, wenn ich unter un&#x017F;eren jungen Männern<lb/>
hätte wählen mü&#x017F;&#x017F;en. Als ihr zum er&#x017F;ten Male an<lb/>
dem Gitter meines Hau&#x017F;es &#x017F;tandet, und ich euch &#x017F;ah,<lb/>
dachte ich: &#x201E;das i&#x017F;t vielleicht der Gatte für Natalien.&#x201C;<lb/>
Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte<lb/>
ich es wieder, wußte aber warum. Natalie &#x017F;ah<lb/>
euch, und liebte euch, &#x017F;o wie ihr &#x017F;ie. Wir kannten<lb/>
das Keimen der gegen&#x017F;eitigen Neigung. Bei Na¬<lb/>
talien trat &#x017F;ie Anfangs in einem höheren Schwunge<lb/>
ihres ganzen We&#x017F;ens &#x017F;päter in einer etwas &#x017F;chmerz¬<lb/>
lichen Unruhe auf. In euch er&#x017F;chloß &#x017F;ie euer Herz<lb/>
zu einer früheren Blüthe der Kun&#x017F;t und zu einem Ein¬<lb/>
gehen in die tieferen Schäze der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Wir<lb/>
warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit<lb/>
und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten<lb/>
wir ab&#x017F;ichtlich Natalien zwei Winter nicht in die<lb/>
Stadt, daß &#x017F;ie von euch getrennt &#x017F;ei, ja &#x017F;ie wurde<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0365] ſchlechtes und in bei Anſchauung mancher Völker und ihres Treibens gefunden. Natalie iſt dadurch befe¬ ſtigt veredelt und geglättet worden. Manche junge Männer hat ſie kennen gelernt, aber ſie hat nie ein Zeichen einer Neigung gegeben. Sogenannte ſehr glänzende Verbindungen ſind auf dieſe Weiſe für ſie verloren gegangen. Ich hätte auch große Sorge gehabt, wenn ich unter unſeren jungen Männern hätte wählen müſſen. Als ihr zum erſten Male an dem Gitter meines Hauſes ſtandet, und ich euch ſah, dachte ich: „das iſt vielleicht der Gatte für Natalien.“ Warum ich es dachte, weiß ich nicht. Später dachte ich es wieder, wußte aber warum. Natalie ſah euch, und liebte euch, ſo wie ihr ſie. Wir kannten das Keimen der gegenſeitigen Neigung. Bei Na¬ talien trat ſie Anfangs in einem höheren Schwunge ihres ganzen Weſens ſpäter in einer etwas ſchmerz¬ lichen Unruhe auf. In euch erſchloß ſie euer Herz zu einer früheren Blüthe der Kunſt und zu einem Ein¬ gehen in die tieferen Schäze der Wiſſenſchaft. Wir warteten auf die Entwicklung. Zu größerer Sicherheit und zur Erprüfung der Dauer ihrer Gefühle brachten wir abſichtlich Natalien zwei Winter nicht in die Stadt, daß ſie von euch getrennt ſei, ja ſie wurde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/365
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 3. Pesth, 1857, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer03_1857/365>, abgerufen am 22.11.2024.