Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Liebe sein. So dürfen Wir zwar urtheilen, aber nur "mit
Liebe". Die Bibel darf allerdings kritisirt werden und zwar
sehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen sie
lieben und das heilige Buch in ihr sehen. Heißt dieß etwas
anderes als: er darf sie nicht zu Tode kritisiren, er muß sie
bestehen lassen, und zwar als ein Heiliges, Unumstößliches? --
Auch in unserer Kritik über Menschen soll die Liebe unverän¬
derter Grundton bleiben. Gewiß sind Urtheile, welche der
Haß eingiebt, gar nicht unsere eigenen Urtheile, sondern Ur¬
theile des Uns beherrschenden Hasses, "gehässige Urtheile".
Aber sind Urtheile, welche Uns die Liebe eingiebt, mehr unsere
eigenen? Sie sind Urtheile der Uns beherrschenden Liebe, sind
"liebevolle, nachsichtige" Urtheile, sind nicht unsere eigenen,
mithin gar nicht wirkliche Urtheile. Wer vor Liebe zur Gerech¬
tigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann
wohl fragen und forschen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich
sei oder fordere und worin sie bestehe, aber nicht, ob sie etwas sei.

Es ist sehr wahr "Wer in der Liebe bleibet, der bleibet
in Gott und Gott in ihm". (1 Joh. 4, 16.) Der Gott
bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und
er bleibet in Gott, kommt nicht zu sich und in seine eigene
Heimath, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos.

"Gott ist die Liebe! Alle Zeit und alle Geschlechter er¬
kennen in diesem Worte den Mittelpunkt des Christenthums."
Gott, der die Liebe ist, ist ein zudringlicher Gott: er kann die
Welt nicht in Ruhe lassen, sondern will sie beseligen.
"Gott ist Mensch geworden, um die Menschen göttlich zu
machen." *)Er hat seine Hand überall im Spiele, und nichts

*) Athanasius.

Liebe ſein. So dürfen Wir zwar urtheilen, aber nur „mit
Liebe“. Die Bibel darf allerdings kritiſirt werden und zwar
ſehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen ſie
lieben und das heilige Buch in ihr ſehen. Heißt dieß etwas
anderes als: er darf ſie nicht zu Tode kritiſiren, er muß ſie
beſtehen laſſen, und zwar als ein Heiliges, Unumſtößliches? —
Auch in unſerer Kritik über Menſchen ſoll die Liebe unverän¬
derter Grundton bleiben. Gewiß ſind Urtheile, welche der
Haß eingiebt, gar nicht unſere eigenen Urtheile, ſondern Ur¬
theile des Uns beherrſchenden Haſſes, „gehäſſige Urtheile“.
Aber ſind Urtheile, welche Uns die Liebe eingiebt, mehr unſere
eigenen? Sie ſind Urtheile der Uns beherrſchenden Liebe, ſind
„liebevolle, nachſichtige“ Urtheile, ſind nicht unſere eigenen,
mithin gar nicht wirkliche Urtheile. Wer vor Liebe zur Gerech¬
tigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann
wohl fragen und forſchen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich
ſei oder fordere und worin ſie beſtehe, aber nicht, ob ſie etwas ſei.

Es iſt ſehr wahr „Wer in der Liebe bleibet, der bleibet
in Gott und Gott in ihm“. (1 Joh. 4, 16.) Der Gott
bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und
er bleibet in Gott, kommt nicht zu ſich und in ſeine eigene
Heimath, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos.

„Gott iſt die Liebe! Alle Zeit und alle Geſchlechter er¬
kennen in dieſem Worte den Mittelpunkt des Chriſtenthums.“
Gott, der die Liebe iſt, iſt ein zudringlicher Gott: er kann die
Welt nicht in Ruhe laſſen, ſondern will ſie beſeligen.
„Gott iſt Menſch geworden, um die Menſchen göttlich zu
machen.“ *)Er hat ſeine Hand überall im Spiele, und nichts

*) Athanaſius.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0390" n="382"/>
Liebe &#x017F;ein. So dürfen Wir zwar urtheilen, aber nur &#x201E;mit<lb/>
Liebe&#x201C;. Die Bibel darf allerdings kriti&#x017F;irt werden und zwar<lb/>
&#x017F;ehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#g">lieben</hi> und das heilige Buch in ihr &#x017F;ehen. Heißt dieß etwas<lb/>
anderes als: er darf &#x017F;ie nicht zu Tode kriti&#x017F;iren, er muß &#x017F;ie<lb/>
be&#x017F;tehen la&#x017F;&#x017F;en, und zwar als ein Heiliges, Unum&#x017F;tößliches? &#x2014;<lb/>
Auch in un&#x017F;erer Kritik über Men&#x017F;chen &#x017F;oll die Liebe unverän¬<lb/>
derter Grundton bleiben. Gewiß &#x017F;ind Urtheile, welche der<lb/>
Haß eingiebt, gar nicht un&#x017F;ere <hi rendition="#g">eigenen</hi> Urtheile, &#x017F;ondern Ur¬<lb/>
theile des Uns beherr&#x017F;chenden Ha&#x017F;&#x017F;es, &#x201E;gehä&#x017F;&#x017F;ige Urtheile&#x201C;.<lb/>
Aber &#x017F;ind Urtheile, welche Uns die Liebe eingiebt, mehr un&#x017F;ere<lb/><hi rendition="#g">eigenen</hi>? Sie &#x017F;ind Urtheile der Uns beherr&#x017F;chenden Liebe, &#x017F;ind<lb/>
&#x201E;liebevolle, nach&#x017F;ichtige&#x201C; Urtheile, &#x017F;ind nicht un&#x017F;ere <hi rendition="#g">eigenen</hi>,<lb/>
mithin gar nicht wirkliche Urtheile. Wer vor Liebe zur Gerech¬<lb/>
tigkeit brennt, der ruft aus: <hi rendition="#aq">fiat iustitia, pereat mundus</hi>. Er kann<lb/>
wohl fragen und for&#x017F;chen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich<lb/>
&#x017F;ei oder fordere und <hi rendition="#g">worin</hi> &#x017F;ie be&#x017F;tehe, aber nicht, <hi rendition="#g">ob</hi> &#x017F;ie etwas &#x017F;ei.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t &#x017F;ehr wahr &#x201E;Wer in der Liebe bleibet, der bleibet<lb/>
in Gott und Gott in ihm&#x201C;. (1 Joh. 4, 16.) Der Gott<lb/>
bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und<lb/>
er bleibet in Gott, kommt nicht zu &#x017F;ich und in &#x017F;eine eigene<lb/>
Heimath, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Gott i&#x017F;t die Liebe! Alle Zeit und alle Ge&#x017F;chlechter er¬<lb/>
kennen in die&#x017F;em Worte den Mittelpunkt des Chri&#x017F;tenthums.&#x201C;<lb/>
Gott, der die Liebe i&#x017F;t, i&#x017F;t ein zudringlicher Gott: er kann die<lb/>
Welt nicht in Ruhe la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern will &#x017F;ie <hi rendition="#g">be&#x017F;eligen</hi>.<lb/>
&#x201E;Gott i&#x017F;t Men&#x017F;ch geworden, um die Men&#x017F;chen göttlich zu<lb/>
machen.&#x201C; <note place="foot" n="*)"><lb/>
Athana&#x017F;ius.</note>Er hat &#x017F;eine Hand überall im Spiele, und nichts<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0390] Liebe ſein. So dürfen Wir zwar urtheilen, aber nur „mit Liebe“. Die Bibel darf allerdings kritiſirt werden und zwar ſehr gründlich, aber der Kritiker muß vor allen Dingen ſie lieben und das heilige Buch in ihr ſehen. Heißt dieß etwas anderes als: er darf ſie nicht zu Tode kritiſiren, er muß ſie beſtehen laſſen, und zwar als ein Heiliges, Unumſtößliches? — Auch in unſerer Kritik über Menſchen ſoll die Liebe unverän¬ derter Grundton bleiben. Gewiß ſind Urtheile, welche der Haß eingiebt, gar nicht unſere eigenen Urtheile, ſondern Ur¬ theile des Uns beherrſchenden Haſſes, „gehäſſige Urtheile“. Aber ſind Urtheile, welche Uns die Liebe eingiebt, mehr unſere eigenen? Sie ſind Urtheile der Uns beherrſchenden Liebe, ſind „liebevolle, nachſichtige“ Urtheile, ſind nicht unſere eigenen, mithin gar nicht wirkliche Urtheile. Wer vor Liebe zur Gerech¬ tigkeit brennt, der ruft aus: fiat iustitia, pereat mundus. Er kann wohl fragen und forſchen, was denn die Gerechtigkeit eigentlich ſei oder fordere und worin ſie beſtehe, aber nicht, ob ſie etwas ſei. Es iſt ſehr wahr „Wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm“. (1 Joh. 4, 16.) Der Gott bleibt in ihm, er wird ihn nicht los, wird nicht gottlos, und er bleibet in Gott, kommt nicht zu ſich und in ſeine eigene Heimath, bleibt in der Liebe zu Gott und wird nicht lieblos. „Gott iſt die Liebe! Alle Zeit und alle Geſchlechter er¬ kennen in dieſem Worte den Mittelpunkt des Chriſtenthums.“ Gott, der die Liebe iſt, iſt ein zudringlicher Gott: er kann die Welt nicht in Ruhe laſſen, ſondern will ſie beſeligen. „Gott iſt Menſch geworden, um die Menſchen göttlich zu machen.“ *)Er hat ſeine Hand überall im Spiele, und nichts *) Athanaſius.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/390
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/390>, abgerufen am 23.11.2024.