"du dir das Leben nicht gegeben hast, sondern Gott, der es dir auch allein wieder nehmen kann" (als ob, auch in dieser Vor¬ stellung gesprochen, Mir's Gott nicht ebensowohl nähme, wenn ich Mich tödte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feind¬ liche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentschluß auch in mir geweckt!): so verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein Leben dem Vaterlande u. s. w. schulde, "weil ich nicht wisse, ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne." Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie Gott ein Rüstzeug. Bin ich unsittlich, so ist dem Guten mit meiner Besserung gedient, bin Ich "gottlos", so hat Gott Freude an meiner Bußfertigkeit. Selbstmord ist also so¬ wohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, dessen Standpunkt die Religiosität ist, sich das Leben nimmt, so handelt er gottver¬ gessen; ist aber der Standpunkt des Selbstmörders die Sitt¬ lichkeit, so handelt er pflichtvergessen, unsittlich. Man quälte sich viel mit der Frage, ob Emilie Galotti's Tod vor der Sittlichkeit sich rechtfertigen lasse (man nimmt ihn, als wäre er Selbstmord, was er der Sache nach auch ist). Daß sie in die Keuschheit, dieß sittliche Gut, so vernarrt ist, um selbst ihr Leben dafür zu lassen, ist jedenfalls sittlich; daß sie aber sich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, ist wieder un¬ sittlich. Solche Widersprüche bilden in dem sittlichen Trauer¬ spiele den tragischen Conflict überhaupt, und man muß sittlich denken und fühlen, um daran ein Interesse nehmen zu können.
Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird nothwendig auch die Menschlichkeit treffen, weil man dem Menschen, der Menschheit oder Gattung gleichfalls sein Leben schuldig ist. Nur wenn ich keinem Wesen verpflichtet bin, ist
„du dir das Leben nicht gegeben haſt, ſondern Gott, der es dir auch allein wieder nehmen kann“ (als ob, auch in dieſer Vor¬ ſtellung geſprochen, Mir's Gott nicht ebenſowohl nähme, wenn ich Mich tödte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feind¬ liche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentſchluß auch in mir geweckt!): ſo verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein Leben dem Vaterlande u. ſ. w. ſchulde, „weil ich nicht wiſſe, ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne.“ Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie Gott ein Rüſtzeug. Bin ich unſittlich, ſo iſt dem Guten mit meiner Beſſerung gedient, bin Ich „gottlos“, ſo hat Gott Freude an meiner Bußfertigkeit. Selbſtmord iſt alſo ſo¬ wohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, deſſen Standpunkt die Religioſität iſt, ſich das Leben nimmt, ſo handelt er gottver¬ geſſen; iſt aber der Standpunkt des Selbſtmörders die Sitt¬ lichkeit, ſo handelt er pflichtvergeſſen, unſittlich. Man quälte ſich viel mit der Frage, ob Emilie Galotti's Tod vor der Sittlichkeit ſich rechtfertigen laſſe (man nimmt ihn, als wäre er Selbſtmord, was er der Sache nach auch iſt). Daß ſie in die Keuſchheit, dieß ſittliche Gut, ſo vernarrt iſt, um ſelbſt ihr Leben dafür zu laſſen, iſt jedenfalls ſittlich; daß ſie aber ſich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, iſt wieder un¬ ſittlich. Solche Widerſprüche bilden in dem ſittlichen Trauer¬ ſpiele den tragiſchen Conflict überhaupt, und man muß ſittlich denken und fühlen, um daran ein Intereſſe nehmen zu können.
Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird nothwendig auch die Menſchlichkeit treffen, weil man dem Menſchen, der Menſchheit oder Gattung gleichfalls ſein Leben ſchuldig iſt. Nur wenn ich keinem Weſen verpflichtet bin, iſt
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„du dir das Leben nicht gegeben haſt, ſondern Gott, der es dir
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ſtellung geſprochen, Mir's Gott nicht ebenſowohl nähme, wenn
ich Mich tödte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feind¬
liche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentſchluß auch in
mir geweckt!): ſo verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein
Leben dem Vaterlande u. ſ. w. ſchulde, „weil ich nicht wiſſe,
ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne.“
Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie
Gott ein Rüſtzeug. Bin ich unſittlich, ſo iſt dem Guten mit
meiner Beſſerung gedient, bin Ich „gottlos“, ſo hat Gott
Freude an meiner Bußfertigkeit. Selbſtmord iſt alſo ſo¬
wohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, deſſen Standpunkt die
Religioſität iſt, ſich das Leben nimmt, ſo handelt er gottver¬
geſſen; iſt aber der Standpunkt des Selbſtmörders die Sitt¬
lichkeit, ſo handelt er pflichtvergeſſen, unſittlich. Man quälte
ſich viel mit der Frage, ob Emilie Galotti's Tod vor der
Sittlichkeit ſich rechtfertigen laſſe (man nimmt ihn, als wäre
er Selbſtmord, was er der Sache nach auch iſt). Daß ſie in
die Keuſchheit, dieß ſittliche Gut, ſo vernarrt iſt, um ſelbſt
ihr Leben dafür zu laſſen, iſt jedenfalls ſittlich; daß ſie aber
ſich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, iſt wieder un¬
ſittlich. Solche Widerſprüche bilden in dem ſittlichen Trauer¬
ſpiele den tragiſchen Conflict überhaupt, und man muß
ſittlich denken und fühlen, um daran ein Intereſſe nehmen
zu können.
Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/440>, abgerufen am 24.11.2024.
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