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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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die Erhaltung des Lebens -- meine Sache. "Ein Sprung
von dieser Brücke macht Mich frei!"

Sind Wir aber jenem Wesen, das Wir in Uns lebendig
machen sollen, die Erhaltung unseres Lebens schuldig, so ist
es nicht weniger unsere Pflicht, dieses Leben nicht nach un¬
serer
Lust zu führen, sondern es jenem Wesen gemäß zu ge¬
stalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein
Thun und Trachten gehört -- ihm.

Was jenem Wesen gemäß sei, ergiebt sich aus dem Be¬
griffe desselben, und wie verschieden ist dieser Begriff begriffen
oder wie verschieden ist jenes Wesen vorgestellt worden! Welche
Forderungen macht das höchste Wesen an den Muhamedaner,
und welch' andere glaubt wieder der Christ von ihm zu ver¬
nehmen; wie abweichend muß daher beider Lebensgestaltung
ausfallen! Nur dieß halten Alle fest, daß das höchste Wesen
unser Leben zu richten habe.

Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und
in seinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich
überall nur erinnerungsweise vorüber, weil sie einer verlebten
Entwicklungsperiode angehören und als Versteinerungen immer¬
hin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unserer Zeit
haben nicht mehr die Frommen, sondern die Liberalen das
große Wort, und die Frömmigkeit selbst kann sich dessen nicht
erwehren, mit liberalem Teint ihr blasses Gesicht zu röthen.
Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und
wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab,
sondern richten sich nach dem Menschen: nicht "göttlich", son¬
dern "menschlich" wollen sie sein und leben.

Der Mensch ist des Liberalen höchstes Wesen, der Mensch
seines Lebens Richter, die Menschlichkeit sein Leitfaden

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die Erhaltung des Lebens — meine Sache. „Ein Sprung
von dieſer Brücke macht Mich frei!“

Sind Wir aber jenem Weſen, das Wir in Uns lebendig
machen ſollen, die Erhaltung unſeres Lebens ſchuldig, ſo iſt
es nicht weniger unſere Pflicht, dieſes Leben nicht nach un¬
ſerer
Luſt zu führen, ſondern es jenem Weſen gemäß zu ge¬
ſtalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein
Thun und Trachten gehört — ihm.

Was jenem Weſen gemäß ſei, ergiebt ſich aus dem Be¬
griffe deſſelben, und wie verſchieden iſt dieſer Begriff begriffen
oder wie verſchieden iſt jenes Weſen vorgeſtellt worden! Welche
Forderungen macht das höchſte Weſen an den Muhamedaner,
und welch' andere glaubt wieder der Chriſt von ihm zu ver¬
nehmen; wie abweichend muß daher beider Lebensgeſtaltung
ausfallen! Nur dieß halten Alle feſt, daß das höchſte Weſen
unſer Leben zu richten habe.

Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und
in ſeinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich
überall nur erinnerungsweiſe vorüber, weil ſie einer verlebten
Entwicklungsperiode angehören und als Verſteinerungen immer¬
hin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unſerer Zeit
haben nicht mehr die Frommen, ſondern die Liberalen das
große Wort, und die Frömmigkeit ſelbſt kann ſich deſſen nicht
erwehren, mit liberalem Teint ihr blaſſes Geſicht zu röthen.
Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und
wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab,
ſondern richten ſich nach dem Menſchen: nicht „göttlich“, ſon¬
dern „menſchlich“ wollen ſie ſein und leben.

Der Menſch iſt des Liberalen höchſtes Weſen, der Menſch
ſeines Lebens Richter, die Menſchlichkeit ſein Leitfaden

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[433/0441] die Erhaltung des Lebens — meine Sache. „Ein Sprung von dieſer Brücke macht Mich frei!“ Sind Wir aber jenem Weſen, das Wir in Uns lebendig machen ſollen, die Erhaltung unſeres Lebens ſchuldig, ſo iſt es nicht weniger unſere Pflicht, dieſes Leben nicht nach un¬ ſerer Luſt zu führen, ſondern es jenem Weſen gemäß zu ge¬ ſtalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein Thun und Trachten gehört — ihm. Was jenem Weſen gemäß ſei, ergiebt ſich aus dem Be¬ griffe deſſelben, und wie verſchieden iſt dieſer Begriff begriffen oder wie verſchieden iſt jenes Weſen vorgeſtellt worden! Welche Forderungen macht das höchſte Weſen an den Muhamedaner, und welch' andere glaubt wieder der Chriſt von ihm zu ver¬ nehmen; wie abweichend muß daher beider Lebensgeſtaltung ausfallen! Nur dieß halten Alle feſt, daß das höchſte Weſen unſer Leben zu richten habe. Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und in ſeinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich überall nur erinnerungsweiſe vorüber, weil ſie einer verlebten Entwicklungsperiode angehören und als Verſteinerungen immer¬ hin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unſerer Zeit haben nicht mehr die Frommen, ſondern die Liberalen das große Wort, und die Frömmigkeit ſelbſt kann ſich deſſen nicht erwehren, mit liberalem Teint ihr blaſſes Geſicht zu röthen. Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab, ſondern richten ſich nach dem Menſchen: nicht „göttlich“, ſon¬ dern „menſchlich“ wollen ſie ſein und leben. Der Menſch iſt des Liberalen höchſtes Weſen, der Menſch ſeines Lebens Richter, die Menſchlichkeit ſein Leitfaden 28

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/441>, abgerufen am 24.11.2024.