bisherige Idol ihrer Wünsche verfallen. So herrschend die Geldsucht hier ist, so wenig Geizige sieht man. Kein Laster ist seltner als dieses. Der Beweis hievon liegt schon in der Lebensart, die sich schlechterdings mit keiner Knauserey, geschweige mit dem Geize verträgt. Nichts finden die Petersburger daher lächer- licher, als die einzelnen Beyspiele dieser Thor- heit, die dieses oder jenes Individuum dem Publikum zum Besten giebt. Alltägliche Züge dieser Art, die an andern Orten gar keine Sensation erregen würden, fallen hier zum Erstaunen auf, und wenn die gutmüthige Laune der Petersburger irgendwo in Sarkas- men übergeht, so ist es bey solchen Gelegen- heiten. -- Eine Folge dieser Denkungsart ist der Hang zur Freygebigkeit, der als eine sehr allgemeine Schattirung im Karakter ausgehoben zu werden verdient. Vorzüglich eigen ist dieser Hang den Russen, bey welchen er durch Religionsgrundsätze, Erziehung und Beyspiel genährt wird. Von seiner Allgemein- heit kann sich der flüchtigste Beobachter über- zeugen. Selten geht ein gemeiner Russe bey einem Bettler vorüber, ohne, auch unaufge-
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bisherige Idol ihrer Wuͤnſche verfallen. So herrſchend die Geldſucht hier iſt, ſo wenig Geizige ſieht man. Kein Laſter iſt ſeltner als dieſes. Der Beweis hievon liegt ſchon in der Lebensart, die ſich ſchlechterdings mit keiner Knauſerey, geſchweige mit dem Geize vertraͤgt. Nichts finden die Petersburger daher laͤcher- licher, als die einzelnen Beyſpiele dieſer Thor- heit, die dieſes oder jenes Individuum dem Publikum zum Beſten giebt. Alltaͤgliche Zuͤge dieſer Art, die an andern Orten gar keine Senſation erregen wuͤrden, fallen hier zum Erſtaunen auf, und wenn die gutmuͤthige Laune der Petersburger irgendwo in Sarkas- men uͤbergeht, ſo iſt es bey ſolchen Gelegen- heiten. — Eine Folge dieſer Denkungsart iſt der Hang zur Freygebigkeit, der als eine ſehr allgemeine Schattirung im Karakter ausgehoben zu werden verdient. Vorzuͤglich eigen iſt dieſer Hang den Ruſſen, bey welchen er durch Religionsgrundſaͤtze, Erziehung und Beyſpiel genaͤhrt wird. Von ſeiner Allgemein- heit kann ſich der fluͤchtigſte Beobachter uͤber- zeugen. Selten geht ein gemeiner Ruſſe bey einem Bettler voruͤber, ohne, auch unaufge-
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bisherige Idol ihrer Wuͤnſche verfallen. So
herrſchend die Geldſucht hier iſt, ſo wenig
Geizige ſieht man. Kein Laſter iſt ſeltner als
dieſes. Der Beweis hievon liegt ſchon in der
Lebensart, die ſich ſchlechterdings mit keiner
Knauſerey, geſchweige mit dem Geize vertraͤgt.
Nichts finden die Petersburger daher laͤcher-
licher, als die einzelnen Beyſpiele dieſer Thor-
heit, die dieſes oder jenes Individuum dem
Publikum zum Beſten giebt. Alltaͤgliche Zuͤge
dieſer Art, die an andern Orten gar keine
Senſation erregen wuͤrden, fallen hier zum
Erſtaunen auf, und wenn die gutmuͤthige
Laune der Petersburger irgendwo in Sarkas-
men uͤbergeht, ſo iſt es bey ſolchen Gelegen-
heiten. — Eine Folge dieſer Denkungsart iſt
der Hang zur Freygebigkeit, der als
eine ſehr allgemeine Schattirung im Karakter
ausgehoben zu werden verdient. Vorzuͤglich
eigen iſt dieſer Hang den Ruſſen, bey welchen
er durch Religionsgrundſaͤtze, Erziehung und
Beyſpiel genaͤhrt wird. Von ſeiner Allgemein-
heit kann ſich der fluͤchtigſte Beobachter uͤber-
zeugen. Selten geht ein gemeiner Ruſſe bey
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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/535>, abgerufen am 27.11.2024.
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