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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.

Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei-
nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent-
lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar-
keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen,
dass sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so
viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr
Urheber gesteht selbst zu, dass von einer solchen Vision,
wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er-
fahrung haben 6); sollen nun doch in einzelnen Fällen der-
gleichen Zustände vorkommen, so muss doch theils eine be-
sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei
Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem
vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, -- theils muss
eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch-
aus fehlt 7); denn ein so lange gehegter Wunsch äussert
sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu-
chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester
nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur
ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge-
wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un-
möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist
beides gleich precär und unwissenschaftlich.

Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf
diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn
war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag-
fluss herbeigeführt, so hat diess zwar nicht die Schwierig-
keit, welche Paulus darin finden will, dass ein stumm ge-
wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von
den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach
V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche
von Jerusalem weggieng; diess nämlich erledigt sich leicht
durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht

6) a. a. O. S. 73.
7) Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.
Erster Abschnitt.

Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei-
nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent-
lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar-
keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen,
daſs sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so
viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr
Urheber gesteht selbst zu, daſs von einer solchen Vision,
wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er-
fahrung haben 6); sollen nun doch in einzelnen Fällen der-
gleichen Zustände vorkommen, so muſs doch theils eine be-
sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei
Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem
vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, — theils muſs
eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch-
aus fehlt 7); denn ein so lange gehegter Wunsch äussert
sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu-
chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester
nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur
ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge-
wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un-
möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist
beides gleich precär und unwissenschaftlich.

Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf
diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn
war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag-
fluſs herbeigeführt, so hat dieſs zwar nicht die Schwierig-
keit, welche Paulus darin finden will, daſs ein stumm ge-
wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von
den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach
V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche
von Jerusalem weggieng; dieſs nämlich erledigt sich leicht
durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht

6) a. a. O. S. 73.
7) Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.
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[92/0116] Erster Abschnitt. Was nun die Paulus'sche Erklärung der Engelerschei- nung betrifft, auf welche alle andern entweder im Wesent- lichen hinauslaufen, oder durch ihre offenbare Unhaltbar- keit hingetrieben werden: so kann man geradezu sagen, daſs sie das Wunderbare, zu dessen Entfernung sie so viele Mühe anwendet, nicht einmal vermeide. Denn ihr Urheber gesteht selbst zu, daſs von einer solchen Vision, wie er sie hier voraussezt, die meisten Menschen keine Er- fahrung haben 6); sollen nun doch in einzelnen Fällen der- gleichen Zustände vorkommen, so muſs doch theils eine be- sondre Disposition dazu vorhanden sein, von welcher bei Zacharias sonst keine Spur zu finden, die auch bei seinem vorgerückten Alter nicht zu vermuthen ist, — theils muſs eine bestimmte Veranlassung hinzutreten, welche hier durch- aus fehlt 7); denn ein so lange gehegter Wunsch äussert sich nicht mehr in ekstatischer Heftigkeit, und das Räu- chern im Tempel konnte einen alten, gedienten Priester nicht wohl ausser sich bringen. So hat Paulus hier nur ein göttliches Wunder in ein Wunder des Zufalls umge- wandelt; ob aber gesagt wird: bei Gott ist kein Ding un- möglich; oder: dem Zufall ist kein Ding unmöglich, ist beides gleich precär und unwissenschaftlich. Aber auch das Verstummen des Zacharias wird auf diesem Standpunkte nur sehr unbefriedigend erklärt. Denn war dasselbe nach der einen Erklärung durch einen Schlag- fluſs herbeigeführt, so hat dieſs zwar nicht die Schwierig- keit, welche Paulus darin finden will, daſs ein stumm ge- wordener Priester nach 3. Mos. 21, 16. ff. sogleich von den Funktionen hätte abtreten müssen, während doch nach V. 23. Zacharias erst nach dem Ende seiner Dienstwoche von Jerusalem weggieng; dieſs nämlich erledigt sich leicht durch die Bemerkung, welche schon Lightfoot gemacht 6) a. a. O. S. 73. 7) Vgl. Schleiermacher über die Schriften des Lukas S. 25.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/116>, abgerufen am 21.11.2024.