Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 4. in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel-chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe, welchen er dagegen blos bildlich auf[z]ufassen habe (tita de tropologesei), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe- renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl- ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe- merkung wollte ich, schliesst Origenes, in Bezug auf die ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma- chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen, dass zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei." -- Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti- gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my- thischen übergegangen 11). That nun aber schon in Bezug auf das A. T. Origenes, um Anstoss in der orthodoxen Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, dass er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich umstiess, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt, von welchen Erzählungen des N. T.s Origenes die geschicht- liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an- geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse sich unter Andrem das nicht verstehen, dass der Satan dem Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha- be, da diess für ein leibliches Auge unmöglich sei: das 11) Dies hat auch Mosheim bemerkt in seiner Übersetzung der
Schrift des Origenes gegen Celsus. S. 94. Anmerk. Einleitung. §. 4. in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel-chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe, welchen er dagegen blos bildlich auf[z]ufassen habe (τίτα δὲ τροπολογήσει), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe- renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl- ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe- merkung wollte ich, schlieſst Origenes, in Bezug auf die ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma- chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen, daſs zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei.“ — Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti- gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my- thischen übergegangen 11). That nun aber schon in Bezug auf das A. T. Origenes, um Anstoſs in der orthodoxen Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, daſs er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich umstieſs, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt, von welchen Erzählungen des N. T.s Origenes die geschicht- liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an- geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse sich unter Andrem das nicht verstehen, daſs der Satan dem Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha- be, da dieſs für ein leibliches Auge unmöglich sei: das 11) Dies hat auch Mosheim bemerkt in seiner Übersetzung der
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Einleitung. §. 4.
in derselben frei erhalten will, der wird überlegen, wel-
chem Theile derselben er ohne Weiteres glauben dürfe,
welchen er dagegen blos bildlich aufzufassen habe (τίτα
δὲ τροπολογήσει), mit Rücksicht auf die Absicht der Refe-
renten, und welchem er endlich, als aus Menschengefäl-
ligkeit geschrieben, ganz misstrauen müsste. Diese Vorbe-
merkung wollte ich, schlieſst Origenes, in Bezug auf die
ganze in den Evangelien gegebene Geschichte Jesu ma-
chen, nicht um zu blindem und grundlosem Glauben die
Einsichtsvolleren aufzufordern, sondern um zu zeigen,
daſs zum Studium dieser Geschichte Verstand und fleissige
Prüfung nöthig ist, und so zu sagen ein Eindringen in
den Sinn der Schriftsteller, um ausfindig zu machen, in
welcher Absicht ein Jedes von ihnen geschrieben sei.“ —
Man sieht, hier ist Origenes beinahe über seinen sonsti-
gen allegorischen Standpunkt hinaus auf den neueren my-
thischen übergegangen 11). That nun aber schon in Bezug
auf das A. T. Origenes, um Anstoſs in der orthodoxen
Kirche zu vermeiden, sich die offenbare Gewalt an, daſs
er von mancher Erzählung, deren buchstäbliche Geltung
er für sich gewiss verwarf, diese doch nicht ausdrücklich
umstieſs, sondern sich begnügte, neben die buchstäbliche
Deutung eine geistige zu stellen: so fand er es noch mehr
beim N. T. gerathen, zurückzuhalten, und die Proben
fallen daher äusserst kärglich aus, wenn man nun fragt,
von welchen Erzählungen des N. T.s Origenes die geschicht-
liche Wirklichkeit geläugnet habe, um die gotteswürdige
Wahrheit festzuhalten. Denn was er im Verlauf der an-
geführten Stelle beispielsweise anführt, buchstäblich lasse
sich unter Andrem das nicht verstehen, daſs der Satan dem
Herrn auf einem Berge alle Reiche der Welt gezeigt ha-
be, da dieſs für ein leibliches Auge unmöglich sei: das
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