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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
konnte. Dieses Moment aber liegt nahe genug, und ist
schon im Vorhergehenden angedeutet. War einmal, wie
es in der ersten Christengemeinde geschah (A.G. 19, 4.),
der Täufer nicht mehr als eine Erscheinung für sich, son-
dern als eine, nur zur Vorbereitung auf Christum dienende
gefasst: so verweilte die Vorstellung nicht mehr bei der
Wirksamkeit des blossen Vorläufers, sondern eilte zu der-
jenigen Erscheinung fort, welche er vorbereiten sollte.
Noch offenbarer ist das Interesse, welches auch ohne ge-
schichtlichen Grund die urchristliche Tradition dafür ha-
ben musste, zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentli-
chen Auftritt jede Zwischenzeit auszuschliessen. Denn dass
durch die Taufe Jesus sich an Johannes als Schüler ange-
schlossen und sofort noch längere Zeit in diesem Verhält-
nisse gelebt hätte, diess anzunehmen, widersprach dem re-
ligiösen Interesse der neuen Gemeinde, welches einen, nicht
von Menschen, sondern von Gott belehrten Stifter dersel-
ben verlangte; wesswegen, auch wenn es sich wirklich
auf jene Weise verhalten hätte, dennoch gewiss frühzeitig
der Sache diese andre Wendung gegeben worden wäre,
welcher zufolge die Taufe Jesu durch Johannes nicht
seinen Eintritt in die johanneische Schule, sondern nur
seine Einweihung zum selbstständigen Auftritt bezeich-
nete. So finden wir uns also durch die abweichende Dar-
stellung unsrer Quellen unbehindert, dasjenige anzuneh-
men, wozu die Sache selbst uns drängt, dass nämlich der
Täufer schon längere Zeit vor dem Auftritt Jesu gewirkt
habe.

Dieses angenommen, so müsste, wenn wir nach Luc.
1, 26. und 3, 23. voraussetzen, dass Jesus, nur ein halbes
Jahr jünger als Johannes, bei seinem Auftritt ungefähr im
dreissigsten Jahre gestanden habe, Johannes noch in den
Zwanzigen öffentlich aufgetreten sein. Gegen ein so früh-
zeitiges Auftreten eines Propheten ist nun zwar nach dem
Obigen kein ausdrückliches jüdisches Gesez; auch möchte

Zweiter Abschnitt.
konnte. Dieses Moment aber liegt nahe genug, und ist
schon im Vorhergehenden angedeutet. War einmal, wie
es in der ersten Christengemeinde geschah (A.G. 19, 4.),
der Täufer nicht mehr als eine Erscheinung für sich, son-
dern als eine, nur zur Vorbereitung auf Christum dienende
gefaſst: so verweilte die Vorstellung nicht mehr bei der
Wirksamkeit des bloſsen Vorläufers, sondern eilte zu der-
jenigen Erscheinung fort, welche er vorbereiten sollte.
Noch offenbarer ist das Interesse, welches auch ohne ge-
schichtlichen Grund die urchristliche Tradition dafür ha-
ben muſste, zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentli-
chen Auftritt jede Zwischenzeit auszuschlieſsen. Denn daſs
durch die Taufe Jesus sich an Johannes als Schüler ange-
schlossen und sofort noch längere Zeit in diesem Verhält-
nisse gelebt hätte, dieſs anzunehmen, widersprach dem re-
ligiösen Interesse der neuen Gemeinde, welches einen, nicht
von Menschen, sondern von Gott belehrten Stifter dersel-
ben verlangte; weſswegen, auch wenn es sich wirklich
auf jene Weise verhalten hätte, dennoch gewiſs frühzeitig
der Sache diese andre Wendung gegeben worden wäre,
welcher zufolge die Taufe Jesu durch Johannes nicht
seinen Eintritt in die johanneische Schule, sondern nur
seine Einweihung zum selbstständigen Auftritt bezeich-
nete. So finden wir uns also durch die abweichende Dar-
stellung unsrer Quellen unbehindert, dasjenige anzuneh-
men, wozu die Sache selbst uns drängt, daſs nämlich der
Täufer schon längere Zeit vor dem Auftritt Jesu gewirkt
habe.

Dieses angenommen, so müſste, wenn wir nach Luc.
1, 26. und 3, 23. voraussetzen, daſs Jesus, nur ein halbes
Jahr jünger als Johannes, bei seinem Auftritt ungefähr im
dreissigsten Jahre gestanden habe, Johannes noch in den
Zwanzigen öffentlich aufgetreten sein. Gegen ein so früh-
zeitiges Auftreten eines Propheten ist nun zwar nach dem
Obigen kein ausdrückliches jüdisches Gesez; auch möchte

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[318/0342] Zweiter Abschnitt. konnte. Dieses Moment aber liegt nahe genug, und ist schon im Vorhergehenden angedeutet. War einmal, wie es in der ersten Christengemeinde geschah (A.G. 19, 4.), der Täufer nicht mehr als eine Erscheinung für sich, son- dern als eine, nur zur Vorbereitung auf Christum dienende gefaſst: so verweilte die Vorstellung nicht mehr bei der Wirksamkeit des bloſsen Vorläufers, sondern eilte zu der- jenigen Erscheinung fort, welche er vorbereiten sollte. Noch offenbarer ist das Interesse, welches auch ohne ge- schichtlichen Grund die urchristliche Tradition dafür ha- ben muſste, zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentli- chen Auftritt jede Zwischenzeit auszuschlieſsen. Denn daſs durch die Taufe Jesus sich an Johannes als Schüler ange- schlossen und sofort noch längere Zeit in diesem Verhält- nisse gelebt hätte, dieſs anzunehmen, widersprach dem re- ligiösen Interesse der neuen Gemeinde, welches einen, nicht von Menschen, sondern von Gott belehrten Stifter dersel- ben verlangte; weſswegen, auch wenn es sich wirklich auf jene Weise verhalten hätte, dennoch gewiſs frühzeitig der Sache diese andre Wendung gegeben worden wäre, welcher zufolge die Taufe Jesu durch Johannes nicht seinen Eintritt in die johanneische Schule, sondern nur seine Einweihung zum selbstständigen Auftritt bezeich- nete. So finden wir uns also durch die abweichende Dar- stellung unsrer Quellen unbehindert, dasjenige anzuneh- men, wozu die Sache selbst uns drängt, daſs nämlich der Täufer schon längere Zeit vor dem Auftritt Jesu gewirkt habe. Dieses angenommen, so müſste, wenn wir nach Luc. 1, 26. und 3, 23. voraussetzen, daſs Jesus, nur ein halbes Jahr jünger als Johannes, bei seinem Auftritt ungefähr im dreissigsten Jahre gestanden habe, Johannes noch in den Zwanzigen öffentlich aufgetreten sein. Gegen ein so früh- zeitiges Auftreten eines Propheten ist nun zwar nach dem Obigen kein ausdrückliches jüdisches Gesez; auch möchte

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/342>, abgerufen am 24.11.2024.