Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob dasResultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts- punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher sei, dass Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr- mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, dass mit den mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An- nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden muss, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar- bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen, nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei- nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so dass er früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent- lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken mögen, statt auf den durch höhere Bildung und grössere Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän- gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha- ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam- keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand rechnen musste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man die Darstellung der Synoptiker im Verhältniss zum mosai- schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der strengen Vorschrift des Gesetzes, dass jeder Israelit jähr- Zweiter Abschnitt. auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob dasResultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts- punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr- mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An- nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar- bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen, nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei- nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent- lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän- gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha- ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam- keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai- schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. 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Zweiter Abschnitt.
auf die Seite der Synoptiker neigt: so fragt sich, ob das
Resultat dasselbe bleibt, wenn zu den Verhältnissen und
Absichten Jesu hinaufgestiegen und von diesem Gesichts-
punkt aus zweitens gefragt wird, ob es wahrscheinlicher
sei, daſs Jesus während seines öffentlichen Lebens mehr-
mals oder nur Einmal in Judäa und Jerusalem gewesen
sei? Auch hier zwar ist die Bedenklichkeit, daſs mit den
mehreren Festreisen auch ein Hauptmoment, die Bildung
Jesu zu erklären, wegfiele, nicht schwer zu heben. Denn
theils reicht zur Erklärung der Bildung Jesu auch die An-
nahme von mehreren Festreisen nicht aus, und da auf die
innere Begabung doch das Hauptgewicht gelegt werden
muſs, können wir nicht wissen, ob einem Geist wie der
seinige war, nicht auch Galiläa genug Bildungsmittel dar-
bot; theils würden ja, wenn wir den Synoptikern folgen,
nur diejenigen Festreisen wegfallen, welche Jesus nach sei-
nem öffentlichen Auftritt gemacht haben soll, so daſs er
früher, ohne noch eine Rolle zu spielen, öfters auf den Festen
gegenwärtig gewesen sein könnte. Wollte man aber selbst
das nicht begreiflich finden, wie Jesus nach seinem öffent-
lichen Auftritt sich so lange auf Galiläa habe beschränken
mögen, statt auf den durch höhere Bildung und gröſsere
Frequenz weit tauglicheren Boden Judäa's und Jerusalems
sich zu begeben: so ist es ja längst anerkannt, wie in dem
von Priesterherrschaft und Pharisäerthum weniger abhän-
gigen Galiläa mit seinen einfachen und kräftigen Naturen
Jesus leichter Eingang finden und daher Ursache genug ha-
ben konnte, erst nachdem er hier durch längere Wirksam-
keit einen festen Grund gelegt, sich auch nach Jerusalem
zu wenden, wo er, als im Mittelpunkt des priesterlichen
und pharisäischen Regiments, auf stärkeren Widerstand
rechnen muſste. Bedenklicher wird die Sache, wenn man
die Darstellung der Synoptiker im Verhältniſs zum mosai-
schen Gesez und zur jüdischen Sitte betrachtet. Bei der
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