de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru- fung gewiss auch in der Erzählung noch dadurch hätte hervortreten lassen, dass er, wie Lukas, ausdrücklich be- merkt hätte, wie er alsbald eine dokhen megalen in seinem Hau- se veranstaltet habe. Sagt man, er habe diess aus Beschei- denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch- lichsten modernen Bewusstseins herunter.
An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs- genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli- sten Vorwürfe, welche die pharisaioi und grammateis gegen Jesu Jünger geäussert haben, dass ihr Lehrer meta telonon kai amartolon esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu- rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Dass Vorwürfe über zu grosse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas, historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be- antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi- schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung in der Überlieferung eignete. Dass jener Anstoss nament- lich auch dadurch erregt worden sei, dass Jesus mit Zöll- nern speiste und unter ihr Dach g[verlorenes Material - 1 Zeichen fehlt]ng, hat gleichfalls kei- ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber dass nun die Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.) heisst: kai oi grammateis kai oi pharisaioi idontes auton esthionta -- elegon tois mathetais, diess will sich schon nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an welcher auch die Jünger Theil nahmen, en te o[i]kia war,
Zweiter Abschnitt.
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru- fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be- merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau- se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei- denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch- lichsten modernen Bewuſstseins herunter.
An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs- genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli- sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν καὶ ὰμαρτωλων esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu- rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas, historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be- antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi- schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament- lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll- nern speiste und unter ihr Dach g[verlorenes Material – 1 Zeichen fehlt]ng, hat gleichfalls kei- ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.) heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον ἐσϑίοντα — ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς, dieſs will sich schon nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ ο[ἰ]κίᾳ war,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0570"n="546"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst<lb/>
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-<lb/>
fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte<lb/>
hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be-<lb/>
merkt hätte, wie er alsbald eine <foreignxml:lang="ell">δοχὴνμεγάλην</foreign> in seinem Hau-<lb/>
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei-<lb/>
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man<lb/>
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-<lb/>
lichsten modernen Bewuſstseins herunter.</p><lb/><p>An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-<lb/>
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-<lb/>
sten Vorwürfe, welche die <foreignxml:lang="ell">φαρισαῖοι</foreign> und <foreignxml:lang="ell">γραμματεῖς</foreign> gegen<lb/>
Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer <foreignxml:lang="ell">μετὰτελωνῶν<lb/>καὶὰμαρτωλων</foreign> esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören<lb/>
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des<lb/>
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-<lb/>
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über<lb/>
zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der<lb/>
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern<lb/>
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem<lb/>
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,<lb/>
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-<lb/>
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-<lb/>
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung<lb/>
in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament-<lb/>
lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll-<lb/>
nern speiste und unter ihr Dach g<gapreason="lost"unit="chars"quantity="1"/>ng, hat gleichfalls kei-<lb/>
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die<lb/>
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl<lb/>
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung<lb/>
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)<lb/>
heiſst: <foreignxml:lang="ell">καὶοἱγραμματεῖςκαὶοἱφαρισαῖοιἰδόντεςαὐτον<lb/>ἐσϑίοντα—ἔλεγοντοῖςμαϑηταῖς</foreign>, dieſs will sich schon<lb/>
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an<lb/>
welcher auch die Jünger Theil nahmen, <foreignxml:lang="ell">ἐντῇο<supplied>ἰ</supplied>κίᾳ</foreign> war,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[546/0570]
Zweiter Abschnitt.
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-
fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte
hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be-
merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau-
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei-
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-
lichsten modernen Bewuſstseins herunter.
An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-
sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen
Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν
καὶ ὰμαρτωλων esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über
zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung
in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament-
lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll-
nern speiste und unter ihr Dach g_ng, hat gleichfalls kei-
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)
heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον
ἐσϑίοντα — ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς, dieſs will sich schon
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an
welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ οἰκίᾳ war,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/570>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.