Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-
fung gewiss auch in der Erzählung noch dadurch hätte
hervortreten lassen, dass er, wie Lukas, ausdrücklich be-
merkt hätte, wie er alsbald eine dokhen megalen in seinem Hau-
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe diess aus Beschei-
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-
lichsten modernen Bewusstseins herunter.

An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-
sten Vorwürfe, welche die pharisaioi und grammateis gegen
Jesu Jünger geäussert haben, dass ihr Lehrer meta telonon
kai amartolon esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Dass Vorwürfe über
zu grosse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung
in der Überlieferung eignete. Dass jener Anstoss nament-
lich auch dadurch erregt worden sei, dass Jesus mit Zöll-
nern speiste und unter ihr Dach g[verlorenes Material - 1 Zeichen fehlt]ng, hat gleichfalls kei-
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber dass nun die
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)
heisst: kai oi grammateis kai oi pharisaioi idontes auton
esthionta -- elegon tois mathetais, diess will sich schon
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an
welcher auch die Jünger Theil nahmen, en te o[i]kia war,

Zweiter Abschnitt.
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-
fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte
hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be-
merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau-
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei-
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-
lichsten modernen Bewuſstseins herunter.

An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-
sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen
Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν
καὶ ὰμαρτωλων esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über
zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung
in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament-
lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll-
nern speiste und unter ihr Dach g[verlorenes Material – 1 Zeichen fehlt]ng, hat gleichfalls kei-
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)
heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον
ἐσϑίοντα — ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς, dieſs will sich schon
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an
welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ ο[ἰ]κίᾳ war,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0570" n="546"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst<lb/>
der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru-<lb/>
fung gewi&#x017F;s auch in der Erzählung noch dadurch hätte<lb/>
hervortreten lassen, da&#x017F;s er, wie Lukas, ausdrücklich be-<lb/>
merkt hätte, wie er alsbald eine <foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03BF;&#x03C7;&#x1F74;&#x03BD; &#x03BC;&#x03B5;&#x03B3;&#x03AC;&#x03BB;&#x03B7;&#x03BD;</foreign> in seinem Hau-<lb/>
se veranstaltet habe. Sagt man, er habe die&#x017F;s aus Beschei-<lb/>
denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man<lb/>
einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch-<lb/>
lichsten modernen Bewu&#x017F;stseins herunter.</p><lb/>
            <p>An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs-<lb/>
genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli-<lb/>
sten Vorwürfe, welche die <foreign xml:lang="ell">&#x03C6;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03BF;&#x03B9;</foreign> und <foreign xml:lang="ell">&#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C2;</foreign> gegen<lb/>
Jesu Jünger geäussert haben, da&#x017F;s ihr Lehrer <foreign xml:lang="ell">&#x03BC;&#x03B5;&#x03C4;&#x1F70; &#x03C4;&#x03B5;&#x03BB;&#x03C9;&#x03BD;&#x1FF6;&#x03BD;<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F70;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C1;&#x03C4;&#x03C9;&#x03BB;&#x03C9;&#x03BD;</foreign> esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören<lb/>
können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des<lb/>
Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu-<lb/>
rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Da&#x017F;s Vorwürfe über<lb/>
zu gro&#x017F;se Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der<lb/>
Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern<lb/>
gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem<lb/>
Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas,<lb/>
historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be-<lb/>
antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi-<lb/>
schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung<lb/>
in der Überlieferung eignete. Da&#x017F;s jener Ansto&#x017F;s nament-<lb/>
lich auch dadurch erregt worden sei, da&#x017F;s Jesus mit Zöll-<lb/>
nern speiste und unter ihr Dach g<gap reason="lost" unit="chars" quantity="1"/>ng, hat gleichfalls kei-<lb/>
ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber da&#x017F;s nun die<lb/>
Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl<lb/>
angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung<lb/>
den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.)<lb/>
hei&#x017F;st: <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x03BF;&#x1F31; &#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x03BF;&#x1F31; &#x03C6;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03BF;&#x03B9; &#x1F30;&#x03B4;&#x03CC;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; &#x03B1;&#x1F50;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD;<lb/>
&#x1F10;&#x03C3;&#x03D1;&#x03AF;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B1; &#x2014; &#x1F14;&#x03BB;&#x03B5;&#x03B3;&#x03BF;&#x03BD; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03BC;&#x03B1;&#x03D1;&#x03B7;&#x03C4;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03C2;</foreign>, die&#x017F;s will sich schon<lb/>
nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an<lb/>
welcher auch die Jünger Theil nahmen, <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03BD; &#x03C4;&#x1FC7; &#x03BF;<supplied>&#x1F30;</supplied>&#x03BA;&#x03AF;&#x1FB3;</foreign> war,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[546/0570] Zweiter Abschnitt. de sein kann, da doch der erste Evangelist, wenn er selbst der gastgebende Zöllner war, seine Freude über die Beru- fung gewiſs auch in der Erzählung noch dadurch hätte hervortreten lassen, daſs er, wie Lukas, ausdrücklich be- merkt hätte, wie er alsbald eine δοχὴν μεγάλην in seinem Hau- se veranstaltet habe. Sagt man, er habe dieſs aus Beschei- denheit nicht so ausdrücklich sagen mögen, so zieht man einen derben Galiläer jener Zeit in die Ziererei des schwäch- lichsten modernen Bewuſstseins herunter. An das Mahl bei'm Zöllner, an welchem viele Berufs- genossen desselben Theil nahmen, knüpfen die Evangeli- sten Vorwürfe, welche die φαρισαῖοι und γραμματεῖς gegen Jesu Jünger geäussert haben, daſs ihr Lehrer μετὰ τελωνῶν καὶ ὰμαρτωλων esse, worauf Jesus, der den Tadel hatte hören können, die bekannten Gnomen von der Bestimmung des Arztes für Kranke und des Menschensohns für Sünder zu- rückgab (Matth. 9, 11 ff. parall.). Daſs Vorwürfe über zu groſse Gemeinschaft mit dem verachteten Stande der Zöllner Jesu nicht selten von seinen pharisäischen Gegnern gemacht wurden (vgl. Matth. 11, 19.), liegt ganz in dem Wesen seiner Stellung, und ist also, wenn irgend etwas, historisch; so wie die Jesu hier in den Mund gelegte Be- antwortung jener Vorwürfe durch ihren coneisen, gnomi- schen Charakter sich ganz zu wörtlicher Aufbewahrung in der Überlieferung eignete. Daſs jener Anstoſs nament- lich auch dadurch erregt worden sei, daſs Jesus mit Zöll- nern speiste und unter ihr Dach g_ng, hat gleichfalls kei- ne Unwahrscheinlichkeit gegen sich. Aber daſs nun die Vorwürfe der Gegner sich unmittelbar an das Zöllnermahl angeschlossen haben sollen, wie es nach unsrer Erzählung den Schein gewinnt, wenn es namentlich bei Markus (V. 16.) heiſst: καὶ οἱ γραμματεῖς καὶ οἱ φαρισαῖοι ἰδόντες αὐτον ἐσϑίοντα — ἔλεγον τοῖς μαϑηταῖς, dieſs will sich schon nicht ebensogut denken lassen. Denn da die Mahlzeit, an welcher auch die Jünger Theil nahmen, ἐν τῇ οἰκίᾳ war,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/570
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/570>, abgerufen am 22.11.2024.