Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Siebentes Kapitel. §. 76. entsteht, ob wohl eher der Evangelist diese Redeweisevon Jesu entlehnt, oder die seinige Jesu geliehen haben möge? so ist aus der Ähnlichkeit philonischer Darstellun- gen noch nicht sofort zu schliessen, dass der Verfasser Jesu hier seine alexandrinische Logoslehre in den Mund lege 12), weil sich doch zu dem o oidamen laloumen k. t. l. und oudeis anabebeken k. t. l. in dem oudeis epignosei ton patera k. t. l. Matth. 11, 27. eine Analogie findet, von der hier vorausgesezten himmlischen Präexistenz des Mes- sias aber nach dem früher Bemerkten auch der Apostel Paulus weiss. Nur Eines kann hier Verdacht erwecken, nämlich die Bezeichnung des uios tou anthropou als o on en to ourano. Dieses, 1, 18. in einer analogen Wendung vor- kommende o on mit Erasmus in os en aufzulösen, möchte doch zu bequem sein, und in unsrer Stelle einen gar zu müssigen Beisaz geben. Gewiss ist es mit der ältesten und wiederum neuesten Exegese 13) in seiner präsentiel- len Bedeutung zu fassen; aber schwerlich mit der lezteren zu dem metaphorischen Sinn einer fortwährenden innig- sten Gemeinschaft mit dem Himmel herunterzustimmen, sondern mit der ersteren in der eigentlichen Bedeutung eines realen Seins im Himmel festzuhalten. Aber wie konnte der vor Nikodemus Stehende oder Sitzende sich als im Himmel befindlichen bezeichnen? An die Ubiquität seiner göttlichen Natur, wie die alten Ausleger, werden wir nicht denken wollen, und so bleibt nichts übrig, als zu bekennen, dass wir nicht verstehen, wie in unsrer Stelle Jesus so sprechen, wohl aber, wie 1, 18. der Evan- gelist sich dieser Ausdrücke bedienen konnte. Ihm näm- lich, auf seinem Standpunkt, nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, war dieser bereits wieder ein im Schooss des Vaters befindlicher, so dass er im vollen präsentiellen 12) Wie diess in den Probabilien S. 46. geschicht. 13) Winer, N. T.liche Gramm. S. 291. Lücke, 1, S. 468.
Siebentes Kapitel. §. 76. entsteht, ob wohl eher der Evangelist diese Redeweisevon Jesu entlehnt, oder die seinige Jesu geliehen haben möge? so ist aus der Ähnlichkeit philonischer Darstellun- gen noch nicht sofort zu schlieſsen, daſs der Verfasser Jesu hier seine alexandrinische Logoslehre in den Mund lege 12), weil sich doch zu dem ὃ οἴδαμεν λαλοῦμεν κ. τ. λ. und οὐδεὶς ἀναβέβηκεν κ. τ. λ. in dem οὐδεὶς ἐπιγνώσει τὸν πατέρα κ. τ. λ. Matth. 11, 27. eine Analogie findet, von der hier vorausgesezten himmlischen Präexistenz des Mes- sias aber nach dem früher Bemerkten auch der Apostel Paulus weiſs. Nur Eines kann hier Verdacht erwecken, nämlich die Bezeichnung des υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου als ὁ ὢν ἐν τῷ οὐρανῷ. Dieses, 1, 18. in einer analogen Wendung vor- kommende ὁ ὤν mit Erasmus in ὃς ἦν aufzulösen, möchte doch zu bequem sein, und in unsrer Stelle einen gar zu müſsigen Beisaz geben. Gewiſs ist es mit der ältesten und wiederum neuesten Exegese 13) in seiner präsentiel- len Bedeutung zu fassen; aber schwerlich mit der lezteren zu dem metaphorischen Sinn einer fortwährenden innig- sten Gemeinschaft mit dem Himmel herunterzustimmen, sondern mit der ersteren in der eigentlichen Bedeutung eines realen Seins im Himmel festzuhalten. Aber wie konnte der vor Nikodemus Stehende oder Sitzende sich als im Himmel befindlichen bezeichnen? An die Ubiquität seiner göttlichen Natur, wie die alten Ausleger, werden wir nicht denken wollen, und so bleibt nichts übrig, als zu bekennen, daſs wir nicht verstehen, wie in unsrer Stelle Jesus so sprechen, wohl aber, wie 1, 18. der Evan- gelist sich dieser Ausdrücke bedienen konnte. Ihm näm- lich, auf seinem Standpunkt, nach der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, war dieser bereits wieder ein im Schooſs des Vaters befindlicher, so daſs er im vollen präsentiellen 12) Wie diess in den Probabilien S. 46. geschicht. 13) Winer, N. T.liche Gramm. S. 291. Lücke, 1, S. 468.
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Siebentes Kapitel. §. 76.
entsteht, ob wohl eher der Evangelist diese Redeweise
von Jesu entlehnt, oder die seinige Jesu geliehen haben
möge? so ist aus der Ähnlichkeit philonischer Darstellun-
gen noch nicht sofort zu schlieſsen, daſs der Verfasser
Jesu hier seine alexandrinische Logoslehre in den Mund
lege 12), weil sich doch zu dem ὃ οἴδαμεν λαλοῦμεν κ. τ. λ.
und οὐδεὶς ἀναβέβηκεν κ. τ. λ. in dem οὐδεὶς ἐπιγνώσει τὸν
πατέρα κ. τ. λ. Matth. 11, 27. eine Analogie findet, von
der hier vorausgesezten himmlischen Präexistenz des Mes-
sias aber nach dem früher Bemerkten auch der Apostel
Paulus weiſs. Nur Eines kann hier Verdacht erwecken,
nämlich die Bezeichnung des υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου als ὁ ὢν ἐν
τῷ οὐρανῷ. Dieses, 1, 18. in einer analogen Wendung vor-
kommende ὁ ὤν mit Erasmus in ὃς ἦν aufzulösen, möchte
doch zu bequem sein, und in unsrer Stelle einen gar zu
müſsigen Beisaz geben. Gewiſs ist es mit der ältesten
und wiederum neuesten Exegese 13) in seiner präsentiel-
len Bedeutung zu fassen; aber schwerlich mit der lezteren
zu dem metaphorischen Sinn einer fortwährenden innig-
sten Gemeinschaft mit dem Himmel herunterzustimmen,
sondern mit der ersteren in der eigentlichen Bedeutung
eines realen Seins im Himmel festzuhalten. Aber wie
konnte der vor Nikodemus Stehende oder Sitzende sich
als im Himmel befindlichen bezeichnen? An die Ubiquität
seiner göttlichen Natur, wie die alten Ausleger, werden
wir nicht denken wollen, und so bleibt nichts übrig, als
zu bekennen, daſs wir nicht verstehen, wie in unsrer
Stelle Jesus so sprechen, wohl aber, wie 1, 18. der Evan-
gelist sich dieser Ausdrücke bedienen konnte. Ihm näm-
lich, auf seinem Standpunkt, nach der Auferstehung und
Himmelfahrt Jesu, war dieser bereits wieder ein im Schooſs
des Vaters befindlicher, so daſs er im vollen präsentiellen
12) Wie diess in den Probabilien S. 46. geschicht.
13) Winer, N. T.liche Gramm. S. 291. Lücke, 1, S. 468.
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