Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 96. Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien geradeunter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan- der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden: geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg anfasste, die Träger stillestehen lässt. Durch die Erzäh- lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als tröstenden Zuspruch, die Worte: me klaie zu ihr gespro- chen 14). Allein was wäre doch das für ein leerer, an- massender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi- gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muss er das Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand ein, dass Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten 15), jene Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken halfen. Allein abgesehen davon, dass jene Zwischenmo- mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke: neaniske, soi lego, egertheti, eher dem Machtbefehl eines Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn- lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewusst war, den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge- 14) so auch Hase, L. J. §. 87. 15) Venturini, 2, S. 293.
Neuntes Kapitel. §. 96. Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien geradeunter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan- der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden: geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg anfaſste, die Träger stillestehen läſst. Durch die Erzäh- lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als tröstenden Zuspruch, die Worte: μὴ κλαῖε zu ihr gespro- chen 14). Allein was wäre doch das für ein leerer, an- maſsender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi- gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muſs er das Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand ein, daſs Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten 15), jene Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken halfen. Allein abgesehen davon, daſs jene Zwischenmo- mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke: νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρϑητι, eher dem Machtbefehl eines Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn- lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewuſst war, den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge- 14) so auch Hase, L. J. §. 87. 15) Venturini, 2, S. 293.
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Neuntes Kapitel. §. 96.
Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien gerade
unter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan-
der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden:
geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg
anfaſste, die Träger stillestehen läſst. Durch die Erzäh-
lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich
während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei
nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug
auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als
tröstenden Zuspruch, die Worte: μὴ κλαῖε zu ihr gespro-
chen 14). Allein was wäre doch das für ein leerer, an-
maſsender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi-
gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten
wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des
Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe
ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er
also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muſs er das
Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch
alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die
Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf
Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand
ein, daſs Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen
bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder
nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten 15), jene
Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken
halfen. Allein abgesehen davon, daſs jene Zwischenmo-
mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke:
νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρϑητι, eher dem Machtbefehl eines
Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn-
lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewuſst war,
den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst
erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge-
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15) Venturini, 2, S. 293.
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