Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 100. Bedürfniss Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel-cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.), es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung, dass auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an den es schon Wunder nehmen muss, dass er so zur Un- zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar- tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen- väter stiessen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan- den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz besonders räthselhaft 5); Woolston aber spottet nicht mit Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei- nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer- den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con- jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den Wunsch, dass doch die schwierigen Worte lieber gar nicht dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt, sie mögen wohl spätere Glosse sein 6). Andrerseits, da, wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge- kehrte Angabe zu wünschen war, dass damals Feigenzeit gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil- len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat man auf verschiedene Weise die Negation aus dem Satze 5) Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: O de Markos anagrapsasvgl. Augustin a. a. O. 6) Touph emendd. in Suidam, 1, p. 330 f. Das Leben Jesu II. Band. 16
Neuntes Kapitel. §. 100. Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel-cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.), es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung, daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un- zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar- tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen- väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan- den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz besonders räthselhaft 5); Woolston aber spottet nicht mit Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei- nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer- den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con- jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt, sie mögen wohl spätere Glosse sein 6). Andrerseits, da, wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge- kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil- len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat man auf verschiedene Weise die Negation aus dem Satze 5) Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: Ὁ δὲ Μάρκος ἀναγράψαςvgl. Augustin a. a. O. 6) Touph emendd. in Suidam, 1, p. 330 f. Das Leben Jesu II. Band. 16
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0260" n="241"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 100.</fw><lb/> Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel-<lb/> cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser<lb/> Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.),<lb/> es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung,<lb/> daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an<lb/> den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un-<lb/> zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als<lb/> er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar-<lb/> tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie<lb/> die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen-<lb/> väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan-<lb/> den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz<lb/> besonders räthselhaft <note place="foot" n="5)">Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: <quote xml:lang="ell">Ὁ δὲ Μάρκος ἀναγράψας<lb/> τὰ κατὰ τὸν τόπον, ἀπεμφαῖνόν τι ὡς πρὸς τὸ ῥητὸν προσέϑηκε,<lb/> ποιήσας, ὅτι — ουγὰρ ἠν καιρὸς σύκων· — Εἴποι γὰρ ἄν τις·<lb/> εἰ μὴ ὁ καιρὸς σύκων ἠν, πῶς ἠλϑεν ὁ Ἰ. ὡς εὑρήσων τι ἐν αὐτῇ,<lb/> καὶ πῶς δικαίως εὶπεν αὐτῇ· μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦμηδεὶς<lb/> καρπὸν φάγῃ;</quote> vgl. Augustin a. a. O.</note>; <hi rendition="#k">Woolston</hi> aber spottet nicht mit<lb/> Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in<lb/> seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei-<lb/> nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer-<lb/> den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con-<lb/> jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes<lb/> zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den<lb/> Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht<lb/> dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt,<lb/> sie mögen wohl spätere Glosse sein <note place="foot" n="6)"><hi rendition="#k">Touph</hi> emendd. in Suidam, 1, p. 330 f.</note>. Andrerseits, da,<lb/> wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge-<lb/> kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit<lb/> gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil-<lb/> len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat<lb/> man auf verschiedene Weise die Negation aus dem Satze<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu II. Band.</hi> 16</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [241/0260]
Neuntes Kapitel. §. 100.
Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel-
cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser
Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.),
es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung,
daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an
den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un-
zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als
er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar-
tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie
die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen-
väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan-
den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz
besonders räthselhaft 5); Woolston aber spottet nicht mit
Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in
seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei-
nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer-
den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con-
jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes
zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den
Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht
dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt,
sie mögen wohl spätere Glosse sein 6). Andrerseits, da,
wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge-
kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit
gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil-
len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat
man auf verschiedene Weise die Negation aus dem Satze
5) Orig. Comm. in Matth. Tom. 16, 29: Ὁ δὲ Μάρκος ἀναγράψας
τὰ κατὰ τὸν τόπον, ἀπεμφαῖνόν τι ὡς πρὸς τὸ ῥητὸν προσέϑηκε,
ποιήσας, ὅτι — ουγὰρ ἠν καιρὸς σύκων· — Εἴποι γὰρ ἄν τις·
εἰ μὴ ὁ καιρὸς σύκων ἠν, πῶς ἠλϑεν ὁ Ἰ. ὡς εὑρήσων τι ἐν αὐτῇ,
καὶ πῶς δικαίως εὶπεν αὐτῇ· μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦμηδεὶς
καρπὸν φάγῃ; vgl. Augustin a. a. O.
6) Touph emendd. in Suidam, 1, p. 330 f.
Das Leben Jesu II. Band. 16
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |