tung im Zusammenhang sein darf. So, wenn hier etwa V. 23. auf Einmal Kaiphas als gegenwärtig genannt wäre, und nun V. 24. folgte: apeseile gar k. t. l., so stände einer solchen Auffassung nichts im Wege: nun aber ist sie durch nichts der Art unterstüzt. Überhaupt, wie Ols- hausen richtig bemerkt, wer sich dem Eindruck der jo- hanneischen Erzählung allein überliesse, würde nie auf eine andere Ansicht kommen können, als dass sie ein Verhör vor Annas geben wolle; nur die Vergleichung der Synop- tiker kann auf eine andere Deutung führen: zu einem so schlechten Schriftsteller aber wird man doch den Johannes nicht machen wollen, dass er durch seine Darstellung un- vermeidliche Missverständnisse veranlasst haben sollte, die nur durch Zuhülfenehmen anderer Berichterstatter über denselben Gegenstand zu lösen wären.
Es bleibt also dabei: Johannes erzählt ein anderes Verhör als die Synoptiker, jener eines vor Annas, diese eines vor Kaiphas. Arkhiereus konnte er den gewesenen Hohenpriester, der zugleich der Schwiegervater des regie- renden war, so gut nennen als Lukas, 3, 2; die ausführ- liche Bezeichnung des Kaiphas aber konnte bei dessen erst- maliger Wiedererwähnung nach dem berühmten Rathschlag passend scheinen, auch wenn unmittelbar darauf nicht et- was bei ihm Vorgefallenes zu berichten war. Warum man Jesum zuerst zu Annas führte, lässt sich aus dem Einfluss erklären, welchen dieser Mann, auch laut A. G. 4, 6, nach seinem Rücktritt von der hohenpriesterlichen Stelle noch im- mer ausgeübt zu haben scheint. Dass nun aber der vierte Evangelist von dem Verhör vor Kaiphas nichts Näheres angiebt, ist um so auffallender, da in dem vor Annas, nach seiner eigenen Darstellung, nichts entschieden worden ist, mithin die Gründe und der Akt der Verurtheilung Jesu durch das jüdische Gericht in seinem Evangelium durchaus fehlen. Diess aus dem Ergänzungszweck erklären, heisst dem Johannes ein gar zu verkehrtes Verfahren zur Last
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Drittes Kapitel. §. 124.
tung im Zusammenhang sein darf. So, wenn hier etwa V. 23. auf Einmal Kaiphas als gegenwärtig genannt wäre, und nun V. 24. folgte: ἀπέςειλε γὰρ κ. τ. λ., so stände einer solchen Auffassung nichts im Wege: nun aber ist sie durch nichts der Art unterstüzt. Überhaupt, wie Ols- hausen richtig bemerkt, wer sich dem Eindruck der jo- hanneischen Erzählung allein überlieſse, würde nie auf eine andere Ansicht kommen können, als daſs sie ein Verhör vor Annas geben wolle; nur die Vergleichung der Synop- tiker kann auf eine andere Deutung führen: zu einem so schlechten Schriftsteller aber wird man doch den Johannes nicht machen wollen, daſs er durch seine Darstellung un- vermeidliche Miſsverständnisse veranlaſst haben sollte, die nur durch Zuhülfenehmen anderer Berichterstatter über denselben Gegenstand zu lösen wären.
Es bleibt also dabei: Johannes erzählt ein anderes Verhör als die Synoptiker, jener eines vor Annas, diese eines vor Kaiphas. Ἀρχιερεὺς konnte er den gewesenen Hohenpriester, der zugleich der Schwiegervater des regie- renden war, so gut nennen als Lukas, 3, 2; die ausführ- liche Bezeichnung des Kaiphas aber konnte bei dessen erst- maliger Wiedererwähnung nach dem berühmten Rathschlag passend scheinen, auch wenn unmittelbar darauf nicht et- was bei ihm Vorgefallenes zu berichten war. Warum man Jesum zuerst zu Annas führte, läſst sich aus dem Einfluſs erklären, welchen dieser Mann, auch laut A. G. 4, 6, nach seinem Rücktritt von der hohenpriesterlichen Stelle noch im- mer ausgeübt zu haben scheint. Daſs nun aber der vierte Evangelist von dem Verhör vor Kaiphas nichts Näheres angiebt, ist um so auffallender, da in dem vor Annas, nach seiner eigenen Darstellung, nichts entschieden worden ist, mithin die Gründe und der Akt der Verurtheilung Jesu durch das jüdische Gericht in seinem Evangelium durchaus fehlen. Dieſs aus dem Ergänzungszweck erklären, heiſst dem Johannes ein gar zu verkehrtes Verfahren zur Last
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Drittes Kapitel. §. 124.
tung im Zusammenhang sein darf. So, wenn hier etwa
V. 23. auf Einmal Kaiphas als gegenwärtig genannt wäre,
und nun V. 24. folgte: ἀπέςειλε γὰρ κ. τ. λ., so stände
einer solchen Auffassung nichts im Wege: nun aber ist
sie durch nichts der Art unterstüzt. Überhaupt, wie Ols-
hausen richtig bemerkt, wer sich dem Eindruck der jo-
hanneischen Erzählung allein überlieſse, würde nie auf eine
andere Ansicht kommen können, als daſs sie ein Verhör
vor Annas geben wolle; nur die Vergleichung der Synop-
tiker kann auf eine andere Deutung führen: zu einem so
schlechten Schriftsteller aber wird man doch den Johannes
nicht machen wollen, daſs er durch seine Darstellung un-
vermeidliche Miſsverständnisse veranlaſst haben sollte, die
nur durch Zuhülfenehmen anderer Berichterstatter über
denselben Gegenstand zu lösen wären.
Es bleibt also dabei: Johannes erzählt ein anderes
Verhör als die Synoptiker, jener eines vor Annas, diese
eines vor Kaiphas. Ἀρχιερεὺς konnte er den gewesenen
Hohenpriester, der zugleich der Schwiegervater des regie-
renden war, so gut nennen als Lukas, 3, 2; die ausführ-
liche Bezeichnung des Kaiphas aber konnte bei dessen erst-
maliger Wiedererwähnung nach dem berühmten Rathschlag
passend scheinen, auch wenn unmittelbar darauf nicht et-
was bei ihm Vorgefallenes zu berichten war. Warum man
Jesum zuerst zu Annas führte, läſst sich aus dem Einfluſs
erklären, welchen dieser Mann, auch laut A. G. 4, 6, nach
seinem Rücktritt von der hohenpriesterlichen Stelle noch im-
mer ausgeübt zu haben scheint. Daſs nun aber der vierte
Evangelist von dem Verhör vor Kaiphas nichts Näheres
angiebt, ist um so auffallender, da in dem vor Annas, nach
seiner eigenen Darstellung, nichts entschieden worden ist,
mithin die Gründe und der Akt der Verurtheilung Jesu
durch das jüdische Gericht in seinem Evangelium durchaus
fehlen. Dieſs aus dem Ergänzungszweck erklären, heiſst
dem Johannes ein gar zu verkehrtes Verfahren zur Last
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/502>, abgerufen am 22.11.2024.
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