legen, da, wenn er das übergieng, was die Andern schon hatten, ohne anzudeuten, dass er es nur desswegen weg- liess, er berechnen konnte, dadurch nur Verwirrung, und gegen sich den Schein eines falschen Berichts, zuwege zu bringen. Die Meinung, dass das Verhör vor Annas das Hauptverhör gewesen sei, und desswegen das andre über- gangen werden dürfe, kann er auch nicht wohl gehabt haben, da er keinen Beschluss, der in jenem gefasst wor- den wäre, anzugeben weiss; wusste er aber endlich das Verhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch keine nähere Auskunft darüber, so ist freilich auch diess kein geschicktes Verfahren zu nennen.
In der Darstellung des Verhörs bei Kaiphas finden zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten mehrfache Abweichungen statt. Während nach jenen bei- den, als man Jesum in den hohenpriesterlichen Palast brach- te, die Schriftgelehrten und Ältesten bereits versammelt waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hiel- ten, wobei zuerst Zeugen auftraten, dann der Hoheprie- ster ihm die entscheidende Frage vorlegte, auf deren Beantwortung hin die Versammlung ihn des Todes schul- dig erklärte: wird nach der Darstellung im dritten Evan- gelium Jesus die Nacht über im Palast des Hohenpriesters nur einstweilen verwahrt und von der Dienerschaft miss- handelt, bis erst mit Tagesanbruch das Synedrium sich ver- sammelt, und nun, ohne dass vorher Zeugen auftreten, der Hohepriester durch jene entscheidende Frage die Ver- urtheilung beschleunigt. Dass nun die Mitglieder des ho- hen Raths schon in der Nacht, während Judas mit der Wache ausgerückt war, zur Empfangnahme Jesu sich ver- sammelt haben, könnte man unwahrscheinlich finden, und insofern die Darstellung des dritten Evangeliums vorziehen wollen, welches sie erst bei Tagesanbruch zusammenkom- men lässt 4): wenn sich Lukas nur nicht diesen Vortheil
4) So Schleiermacher, über den Lukas, S. 295.
Dritter Abschnitt.
legen, da, wenn er das übergieng, was die Andern schon hatten, ohne anzudeuten, daſs er es nur deſswegen weg- lieſs, er berechnen konnte, dadurch nur Verwirrung, und gegen sich den Schein eines falschen Berichts, zuwege zu bringen. Die Meinung, daſs das Verhör vor Annas das Hauptverhör gewesen sei, und deſswegen das andre über- gangen werden dürfe, kann er auch nicht wohl gehabt haben, da er keinen Beschluſs, der in jenem gefaſst wor- den wäre, anzugeben weiſs; wuſste er aber endlich das Verhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch keine nähere Auskunft darüber, so ist freilich auch dieſs kein geschicktes Verfahren zu nennen.
In der Darstellung des Verhörs bei Kaiphas finden zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten mehrfache Abweichungen statt. Während nach jenen bei- den, als man Jesum in den hohenpriesterlichen Palast brach- te, die Schriftgelehrten und Ältesten bereits versammelt waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hiel- ten, wobei zuerst Zeugen auftraten, dann der Hoheprie- ster ihm die entscheidende Frage vorlegte, auf deren Beantwortung hin die Versammlung ihn des Todes schul- dig erklärte: wird nach der Darstellung im dritten Evan- gelium Jesus die Nacht über im Palast des Hohenpriesters nur einstweilen verwahrt und von der Dienerschaft miſs- handelt, bis erst mit Tagesanbruch das Synedrium sich ver- sammelt, und nun, ohne daſs vorher Zeugen auftreten, der Hohepriester durch jene entscheidende Frage die Ver- urtheilung beschleunigt. Daſs nun die Mitglieder des ho- hen Raths schon in der Nacht, während Judas mit der Wache ausgerückt war, zur Empfangnahme Jesu sich ver- sammelt haben, könnte man unwahrscheinlich finden, und insofern die Darstellung des dritten Evangeliums vorziehen wollen, welches sie erst bei Tagesanbruch zusammenkom- men läſst 4): wenn sich Lukas nur nicht diesen Vortheil
4) So Schleiermacher, über den Lukas, S. 295.
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Dritter Abschnitt.
legen, da, wenn er das übergieng, was die Andern schon
hatten, ohne anzudeuten, daſs er es nur deſswegen weg-
lieſs, er berechnen konnte, dadurch nur Verwirrung, und
gegen sich den Schein eines falschen Berichts, zuwege zu
bringen. Die Meinung, daſs das Verhör vor Annas das
Hauptverhör gewesen sei, und deſswegen das andre über-
gangen werden dürfe, kann er auch nicht wohl gehabt
haben, da er keinen Beschluſs, der in jenem gefaſst wor-
den wäre, anzugeben weiſs; wuſste er aber endlich das
Verhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch
keine nähere Auskunft darüber, so ist freilich auch dieſs
kein geschicktes Verfahren zu nennen.
In der Darstellung des Verhörs bei Kaiphas finden
zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten
mehrfache Abweichungen statt. Während nach jenen bei-
den, als man Jesum in den hohenpriesterlichen Palast brach-
te, die Schriftgelehrten und Ältesten bereits versammelt
waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hiel-
ten, wobei zuerst Zeugen auftraten, dann der Hoheprie-
ster ihm die entscheidende Frage vorlegte, auf deren
Beantwortung hin die Versammlung ihn des Todes schul-
dig erklärte: wird nach der Darstellung im dritten Evan-
gelium Jesus die Nacht über im Palast des Hohenpriesters
nur einstweilen verwahrt und von der Dienerschaft miſs-
handelt, bis erst mit Tagesanbruch das Synedrium sich ver-
sammelt, und nun, ohne daſs vorher Zeugen auftreten,
der Hohepriester durch jene entscheidende Frage die Ver-
urtheilung beschleunigt. Daſs nun die Mitglieder des ho-
hen Raths schon in der Nacht, während Judas mit der
Wache ausgerückt war, zur Empfangnahme Jesu sich ver-
sammelt haben, könnte man unwahrscheinlich finden, und
insofern die Darstellung des dritten Evangeliums vorziehen
wollen, welches sie erst bei Tagesanbruch zusammenkom-
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4) So Schleiermacher, über den Lukas, S. 295.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/503>, abgerufen am 22.11.2024.
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