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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 91.
ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er
denselben, ei ti blepei; gar nicht, bemerkt Paulus, wie
ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern
recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den
Patienten probiren lässt, ob ihm geholfen sei. Der Kran-
ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so dass ihm
die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der
rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den
orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be-
wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er
den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das
Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon
bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus
nicht klar, dass seine Kraft eine endliche, gewöhnlich
menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein-
mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope-
ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet 15).

Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen
Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer-
kung zu stören, dass auch hier die Umstände, welche die
natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom
Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern
untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt
Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber
streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie
es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu-
erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem epi-
tithenai tas kheiras epi tous ophthalmous sprachwidrig statt
eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen.
Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem
Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je-
su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf

15) Paulus, a. a. O. S. 312 f. 392 ff.; natürliche Geschichte, 3,
S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff.

Neuntes Kapitel. §. 91.
ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er
denselben, εἴ τι βλέπει; gar nicht, bemerkt Paulus, wie
ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern
recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den
Patienten probiren läſst, ob ihm geholfen sei. Der Kran-
ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so daſs ihm
die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der
rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den
orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be-
wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er
den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das
Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon
bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus
nicht klar, daſs seine Kraft eine endliche, gewöhnlich
menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein-
mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope-
ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet 15).

Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen
Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer-
kung zu stören, daſs auch hier die Umstände, welche die
natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom
Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern
untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt
Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber
streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie
es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu-
erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem ἐπι-
τιϑέναι τὰς χεῖρας ἐπὶ τοὺς ὀφϑαλμοὺς sprachwidrig statt
eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen.
Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem
Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je-
su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf

15) Paulus, a. a. O. S. 312 f. 392 ff.; natürliche Geschichte, 3,
S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff.
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[71/0090] Neuntes Kapitel. §. 91. ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er denselben, εἴ τι βλέπει; gar nicht, bemerkt Paulus, wie ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den Patienten probiren läſst, ob ihm geholfen sei. Der Kran- ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so daſs ihm die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be- wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus nicht klar, daſs seine Kraft eine endliche, gewöhnlich menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein- mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope- ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet 15). Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer- kung zu stören, daſs auch hier die Umstände, welche die natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu- erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem ἐπι- τιϑέναι τὰς χεῖρας ἐπὶ τοὺς ὀφϑαλμοὺς sprachwidrig statt eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen. Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je- su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf 15) Paulus, a. a. O. S. 312 f. 392 ff.; natürliche Geschichte, 3, S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/90>, abgerufen am 24.11.2024.