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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweiter Abschnitt.
das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un-
gestört zu sein: so dass der rationalistischen Erklärung
alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue
gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und
den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken,
welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht
sie ihre Heilung zu verdanken hätten 16), oder als ein lei-
tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge-
brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei 17); das Suc-
cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen-
den, dass Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau-
ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser
gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher-
gestellt habe 18); oder vermuthet man, dem Blinden, bei
seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei-
lung vielleicht schädlich gewesen 19).

Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei-
genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben
sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor-
bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in-
dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen,
was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn
wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend
eine Spur, dass er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei-
nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle
statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden eperota
auton ei ti blepei; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein piseueis
oti dunamai touto poiesai; stehen müsste. Vollends aber
die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge-
wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist

16) Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 590 f.
17) Olshausen, b. Comm. 1, S. 510.
18) bei Kuinöl, in Marc. p. 110.
19) Olshausen, S. 509.

Zweiter Abschnitt.
das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un-
gestört zu sein: so daſs der rationalistischen Erklärung
alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue
gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und
den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken,
welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht
sie ihre Heilung zu verdanken hätten 16), oder als ein lei-
tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge-
brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei 17); das Suc-
cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen-
den, daſs Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau-
ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser
gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher-
gestellt habe 18); oder vermuthet man, dem Blinden, bei
seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei-
lung vielleicht schädlich gewesen 19).

Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei-
genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben
sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor-
bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in-
dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen,
was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn
wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend
eine Spur, daſs er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei-
nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle
statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden ἐπηρώτα
αὐτὸν εἴ τι βλέπει; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein πιςεύεις
ὅτι δύναμαι τοῦτο ποιῆσαι; stehen müſste. Vollends aber
die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge-
wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist

16) Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 590 f.
17) Olshausen, b. Comm. 1, S. 510.
18) bei Kuinöl, in Marc. p. 110.
19) Olshausen, S. 509.
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[72/0091] Zweiter Abschnitt. das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un- gestört zu sein: so daſs der rationalistischen Erklärung alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken, welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht sie ihre Heilung zu verdanken hätten 16), oder als ein lei- tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge- brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei 17); das Suc- cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen- den, daſs Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau- ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher- gestellt habe 18); oder vermuthet man, dem Blinden, bei seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei- lung vielleicht schädlich gewesen 19). Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei- genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor- bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in- dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen, was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend eine Spur, daſs er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei- nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden ἐπηρώτα αὐτὸν εἴ τι βλέπει; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein πιςεύεις ὅτι δύναμαι τοῦτο ποιῆσαι; stehen müſste. Vollends aber die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge- wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist 16) Hess, Geschichte Jesu, 1, S. 590 f. 17) Olshausen, b. Comm. 1, S. 510. 18) bei Kuinöl, in Marc. p. 110. 19) Olshausen, S. 509.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/91>, abgerufen am 21.11.2024.