Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 91. doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als derbloss negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu- gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin- dig machen lässt, aus welchem Jesus absichtlich dem au- genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan hätte, so müsste sie nur ohne seinen Willen von aussen durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor- den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen, kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli- chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al- le seine Momente hindurchführt; wesswegen denn ein Re- ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom- men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub- te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An- schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu- me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen, dass dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber liegt, wie auch Andre bemerkt haben 20), so wenig eine 20) Fritzsche, Comm. in Marc. p. XLIII.
Neuntes Kapitel. §. 91. doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als derbloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu- gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin- dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au- genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor- den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen, kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli- chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al- le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re- ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom- men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub- te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An- schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu- me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen, daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber liegt, wie auch Andre bemerkt haben 20), so wenig eine 20) Fritzsche, Comm. in Marc. p. XLIII.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0092" n="73"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 91.</fw><lb/> doch (namentlich nach <hi rendition="#k">Olshausen</hi>'s Ansicht) nicht als der<lb/> bloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu-<lb/> gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und<lb/> frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei<lb/> welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht<lb/> die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin-<lb/> dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au-<lb/> genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan<lb/> hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen<lb/> durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor-<lb/> den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung<lb/> von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu<lb/> entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten<lb/> sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir<lb/> seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen,<lb/> kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli-<lb/> chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur<lb/> Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung<lb/> einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm<lb/> zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur<lb/> dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al-<lb/> le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re-<lb/> ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der<lb/> Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom-<lb/> men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das<lb/> Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch<lb/> das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub-<lb/> te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An-<lb/> schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des<lb/> Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die<lb/> halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu-<lb/> me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen,<lb/> daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber<lb/> liegt, wie auch Andre bemerkt haben <note place="foot" n="20)"><hi rendition="#k">Fritzsche</hi>, Comm. in Marc. p. XLIII.</note>, so wenig eine<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0092]
Neuntes Kapitel. §. 91.
doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als der
bloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu-
gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und
frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei
welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht
die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin-
dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au-
genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan
hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen
durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor-
den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung
von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu
entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten
sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir
seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen,
kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli-
chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur
Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung
einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm
zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur
dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al-
le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re-
ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der
Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom-
men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das
Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch
das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub-
te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An-
schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des
Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die
halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu-
me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen,
daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber
liegt, wie auch Andre bemerkt haben 20), so wenig eine
20) Fritzsche, Comm. in Marc. p. XLIII.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |