so peinliche Schmach zugezogen haben? Ihr wolltet in eu- rer tollen Freude frohlocken, da er unter seinen Quaalen erliegen will? Ach, seine blutende Gestalt, sein zerfleisch- ter Leib, seine unzählbaren Striemen und Wunden müs- sen euch vor Augen schweben. Vielleicht werden die Thrä- nen und Martern des unschuldig Leidenden euer gefühlloses Herz rühren. Und was könnte euch sonst rühren, wann dieses Marterbild nicht alle Empfindungen der Wehmuth rege machen sollte? Erschreckt euch nicht der Anblick des gemarterten Jesu, so wird euch auch nicht die Hölle erschre- cken, wenn ihr Abgrund vor euren Augen aufgethan wäre.
Nein, so gefühllos bin ich noch nicht. Jetzt, da ich in einer so grossen Entfernung die Martern meines Jesu betrachte, kann ich mich nicht der Thränen über seinen An- blick erwehren. Ach! wie würde ich in Thränen zerflossen und unter der Last der bittersten Wehmuth zu Boden ge- sunken seyn, wenn ich ein Augenzeuge von seinen zahllosen Plagen gewesen wäre! Allein, möchten doch diese Thrä- nen mein Herz in eine solche Rührung setzen, daß ich auch die Sünden vermiede, die ihm alle solche Quaalen zugezo- gen haben. Möchte ich im Umgange mit der Welt, bey dem lärmenden Geräusch eitler Freuden, bey den Verfüh- rungen zur Sünde, mit eben solchen Empfindungen an die Leiden Jesu denken, als ich es jetzt in der Einsamkeit thue! Wie leicht würde ich alsdann vor solchen Missethaten be- wahret werden, die mir Gewissensbisse verursachen! Wie wenig Reiz würde alsdann die Sünde für mich haben, wenn ich jederzeit die Folgen derselben und die Martern bedächte, die sie meinem Herzen zuziehen könnten! Dann würde auch dieser Theil des Leidens Jesu mir zu unaussprechli- chem Troste gereichen. Ich würde in seinen Wunden mei- ne Heilung, in seinen Schmerzen meine Ruhe, in seinem
Blu-
Fünf und zwanzigſte Betrachtung.
ſo peinliche Schmach zugezogen haben? Ihr wolltet in eu- rer tollen Freude frohlocken, da er unter ſeinen Quaalen erliegen will? Ach, ſeine blutende Geſtalt, ſein zerfleiſch- ter Leib, ſeine unzählbaren Striemen und Wunden müſ- ſen euch vor Augen ſchweben. Vielleicht werden die Thrä- nen und Martern des unſchuldig Leidenden euer gefühlloſes Herz rühren. Und was könnte euch ſonſt rühren, wann dieſes Marterbild nicht alle Empfindungen der Wehmuth rege machen ſollte? Erſchreckt euch nicht der Anblick des gemarterten Jeſu, ſo wird euch auch nicht die Hölle erſchre- cken, wenn ihr Abgrund vor euren Augen aufgethan wäre.
Nein, ſo gefühllos bin ich noch nicht. Jetzt, da ich in einer ſo groſſen Entfernung die Martern meines Jeſu betrachte, kann ich mich nicht der Thränen über ſeinen An- blick erwehren. Ach! wie würde ich in Thränen zerfloſſen und unter der Laſt der bitterſten Wehmuth zu Boden ge- ſunken ſeyn, wenn ich ein Augenzeuge von ſeinen zahlloſen Plagen geweſen wäre! Allein, möchten doch dieſe Thrä- nen mein Herz in eine ſolche Rührung ſetzen, daß ich auch die Sünden vermiede, die ihm alle ſolche Quaalen zugezo- gen haben. Möchte ich im Umgange mit der Welt, bey dem lärmenden Geräuſch eitler Freuden, bey den Verfüh- rungen zur Sünde, mit eben ſolchen Empfindungen an die Leiden Jeſu denken, als ich es jetzt in der Einſamkeit thue! Wie leicht würde ich alsdann vor ſolchen Miſſethaten be- wahret werden, die mir Gewiſſensbiſſe verurſachen! Wie wenig Reiz würde alsdann die Sünde für mich haben, wenn ich jederzeit die Folgen derſelben und die Martern bedächte, die ſie meinem Herzen zuziehen könnten! Dann würde auch dieſer Theil des Leidens Jeſu mir zu unausſprechli- chem Troſte gereichen. Ich würde in ſeinen Wunden mei- ne Heilung, in ſeinen Schmerzen meine Ruhe, in ſeinem
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Fünf und zwanzigſte Betrachtung.
ſo peinliche Schmach zugezogen haben? Ihr wolltet in eu-
rer tollen Freude frohlocken, da er unter ſeinen Quaalen
erliegen will? Ach, ſeine blutende Geſtalt, ſein zerfleiſch-
ter Leib, ſeine unzählbaren Striemen und Wunden müſ-
ſen euch vor Augen ſchweben. Vielleicht werden die Thrä-
nen und Martern des unſchuldig Leidenden euer gefühlloſes
Herz rühren. Und was könnte euch ſonſt rühren, wann
dieſes Marterbild nicht alle Empfindungen der Wehmuth
rege machen ſollte? Erſchreckt euch nicht der Anblick des
gemarterten Jeſu, ſo wird euch auch nicht die Hölle erſchre-
cken, wenn ihr Abgrund vor euren Augen aufgethan wäre.
Nein, ſo gefühllos bin ich noch nicht. Jetzt, da ich
in einer ſo groſſen Entfernung die Martern meines Jeſu
betrachte, kann ich mich nicht der Thränen über ſeinen An-
blick erwehren. Ach! wie würde ich in Thränen zerfloſſen
und unter der Laſt der bitterſten Wehmuth zu Boden ge-
ſunken ſeyn, wenn ich ein Augenzeuge von ſeinen zahlloſen
Plagen geweſen wäre! Allein, möchten doch dieſe Thrä-
nen mein Herz in eine ſolche Rührung ſetzen, daß ich auch
die Sünden vermiede, die ihm alle ſolche Quaalen zugezo-
gen haben. Möchte ich im Umgange mit der Welt, bey
dem lärmenden Geräuſch eitler Freuden, bey den Verfüh-
rungen zur Sünde, mit eben ſolchen Empfindungen an die
Leiden Jeſu denken, als ich es jetzt in der Einſamkeit thue!
Wie leicht würde ich alsdann vor ſolchen Miſſethaten be-
wahret werden, die mir Gewiſſensbiſſe verurſachen! Wie
wenig Reiz würde alsdann die Sünde für mich haben, wenn
ich jederzeit die Folgen derſelben und die Martern bedächte,
die ſie meinem Herzen zuziehen könnten! Dann würde
auch dieſer Theil des Leidens Jeſu mir zu unausſprechli-
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/136>, abgerufen am 26.06.2024.
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