Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Fünf und dreyßigste Betrachtung. wo sie ihre blutdürstigen Absichten an Jesu erfüllt |sahen,nicht aufhörten, ihn durch Spott und Lästerungen zu miß- handeln. Nichts konnte diese Grausamen rühren. Nicht der Anblick eines Unschuldigen, der sich durch lauter Wohl- thaten um eine ganze Nation verdient gemacht hatte; nicht der Anblick seiner Martern, welche alle Quaalen der Mis- sethäter an Peinlichkeit und Schmach übertrafen; nicht der Anblick jener kleinen Anzahl Freunde, welche unter sei- nem Kreuze zu dem bittersten Kummer hingerissen wurden; nicht die Betrachtung seines so heldenmüthigen Betragens, welches er unter den empfindlichsten Schmerzen äusserte. Alles dieses machte auf die Herzen der Jüden so wenig Ein- druck, daß sie vielmehr darum besorgt waren, ihm seine Lei- den unerträglich schwer zu machen. Und diese unmenschli- che Absicht glaubten sie dadurch erreichen zu können, wenn sie nicht nur seinen Leib durch die größten Martern, sondern auch seine Seele durch die empfindlichsten Spottre- reden und Lästerungen verwundeten. An dem Bezeigen der Feinde Jesu kann ich erkennen, nie
Fünf und dreyßigſte Betrachtung. wo ſie ihre blutdürſtigen Abſichten an Jeſu erfüllt |ſahen,nicht aufhörten, ihn durch Spott und Läſterungen zu miß- handeln. Nichts konnte dieſe Grauſamen rühren. Nicht der Anblick eines Unſchuldigen, der ſich durch lauter Wohl- thaten um eine ganze Nation verdient gemacht hatte; nicht der Anblick ſeiner Martern, welche alle Quaalen der Miſ- ſethäter an Peinlichkeit und Schmach übertrafen; nicht der Anblick jener kleinen Anzahl Freunde, welche unter ſei- nem Kreuze zu dem bitterſten Kummer hingeriſſen wurden; nicht die Betrachtung ſeines ſo heldenmüthigen Betragens, welches er unter den empfindlichſten Schmerzen äuſſerte. Alles dieſes machte auf die Herzen der Jüden ſo wenig Ein- druck, daß ſie vielmehr darum beſorgt waren, ihm ſeine Lei- den unerträglich ſchwer zu machen. Und dieſe unmenſchli- che Abſicht glaubten ſie dadurch erreichen zu können, wenn ſie nicht nur ſeinen Leib durch die größten Martern, ſondern auch ſeine Seele durch die empfindlichſten Spottre- reden und Läſterungen verwundeten. An dem Bezeigen der Feinde Jeſu kann ich erkennen, nie
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Fünf und dreyßigſte Betrachtung.
wo ſie ihre blutdürſtigen Abſichten an Jeſu erfüllt |ſahen,
nicht aufhörten, ihn durch Spott und Läſterungen zu miß-
handeln. Nichts konnte dieſe Grauſamen rühren. Nicht
der Anblick eines Unſchuldigen, der ſich durch lauter Wohl-
thaten um eine ganze Nation verdient gemacht hatte; nicht
der Anblick ſeiner Martern, welche alle Quaalen der Miſ-
ſethäter an Peinlichkeit und Schmach übertrafen; nicht
der Anblick jener kleinen Anzahl Freunde, welche unter ſei-
nem Kreuze zu dem bitterſten Kummer hingeriſſen wurden;
nicht die Betrachtung ſeines ſo heldenmüthigen Betragens,
welches er unter den empfindlichſten Schmerzen äuſſerte.
Alles dieſes machte auf die Herzen der Jüden ſo wenig Ein-
druck, daß ſie vielmehr darum beſorgt waren, ihm ſeine Lei-
den unerträglich ſchwer zu machen. Und dieſe unmenſchli-
che Abſicht glaubten ſie dadurch erreichen zu können, wenn
ſie nicht nur ſeinen Leib durch die größten Martern,
ſondern auch ſeine Seele durch die empfindlichſten Spottre-
reden und Läſterungen verwundeten.
An dem Bezeigen der Feinde Jeſu kann ich erkennen,
wie ſchrecklich die Gewalt der Leidenſchaften iſt, und wie
oft die Ausſchweifungen der Menſchen beynahe ins Un-
endliche fortgehen. Wenn ich einmal zu herrſchenden
Sünden hingeriſſen worden bin, alsdann ſteht es nicht
mehr in meiner Gewalt, da ſtille zu ſtehen, wo ich etwa die
elenden Folgen meiner Sünden bemerke. Die herrſchende
Gewohnheit, die ich im Sündigen erlangt habe, wird mich
endlich gegen alle Vorſtellungen, gegen alles Elend, wel-
ches aus der Sünde entſteht, gleichgültig machen. Ich
werde mich von dem Strome der Laſter hinreiſſen laſſen,
und endlich, ehe ich es bemerke, werde ich von dem fürch-
terlichen Abgrunde verſchlungen ſeyn, dem ich auszuwei-
chen ſuchte. Ach, ich müſſe mit aller Sorgfalt die er-
ſten Reizungen der Sünde zu vermeiden ſuchen, und mich
nie
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