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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Sechs und dreyßigste Betrachtung.
Anscheine nach weniger erwarten, als eben von Jesu, der
damals kaum eine menschliche, geschweige eine königliche Ge-
stalt hatte. Jesus war nunmehr in die Tiefe des grösten
Elendes herabgesunken. Er besaß nichts mehr in dieser
Welt, er hieng nackend am Kreuze, er hatte keine Anhän-
ger und Diener. Er war dem Tode nahe, welches bey
Königen und Fürsten der Zeitpunkt ist, wo alle Grösse
und Hoheit verschwindet und wo sich niemand weiter um
ihre Gnade bewirbt. Und unter diesen Umständen bat sich
der Schächer eine Gnade von Jesu aus, die noch über die
Gränzen des zeitlichen Lebens hinausreichet. Er bat ihn,
daß er sich seiner erinnern möchte, wenn er in sein Reich ein-
gegangen seyn würde. Dis war eine Glaube von solcher
Stärke, als man von einem der treuesten Jünger Jesu
nicht erwarten konnte.

Ich will jetzt nicht darüber eine Untersuchung anstel-
len, ob sich ein so starker Glaube an Jesum auch bey mir
befinde. Ich will in meiner Prüfung noch weiter zurück-
gehen, und noch den bey dem bekehrten Missethäter vor-
hergegangenen Gesinnungen und Gemüthsfassungen nach-
denken. Ich habe um so viel mehr Ursache dazu, da mich
der Tod unvermutheter überfallen kann, als er den Schä-
cher überfallen konnte. Dieser konnte mit einiger Ge-
wißheit voraussehen, daß er noch einige Stunden am Kreu-
ze zu leben hätte: und je näher der Tod auf ihn anrückte,
desto ernstlicher konnte er sich auf denselben anschicken. Aber
dis kann ich nicht thun. Ich bin nicht vermögend, nur
mit einiger Zuverläßigkeit vorher zu sehen, wie nahe oder wie
weit entfernt der Tod von mir seyn möchte. Eben so we-
nig kann ich mir auf meine letzten Stunden den volligen
Gebrauch meiner Seelenkräfte versprechen, welcher doch
zu einer wahren Bekehrung unumgänglich nöthig ist. Da
ich entweder plötzlich, oder langsam sterben werde, so bin

ich

Sechs und dreyßigſte Betrachtung.
Anſcheine nach weniger erwarten, als eben von Jeſu, der
damals kaum eine menſchliche, geſchweige eine königliche Ge-
ſtalt hatte. Jeſus war nunmehr in die Tiefe des gröſten
Elendes herabgeſunken. Er beſaß nichts mehr in dieſer
Welt, er hieng nackend am Kreuze, er hatte keine Anhän-
ger und Diener. Er war dem Tode nahe, welches bey
Königen und Fürſten der Zeitpunkt iſt, wo alle Gröſſe
und Hoheit verſchwindet und wo ſich niemand weiter um
ihre Gnade bewirbt. Und unter dieſen Umſtänden bat ſich
der Schächer eine Gnade von Jeſu aus, die noch über die
Gränzen des zeitlichen Lebens hinausreichet. Er bat ihn,
daß er ſich ſeiner erinnern möchte, wenn er in ſein Reich ein-
gegangen ſeyn würde. Dis war eine Glaube von ſolcher
Stärke, als man von einem der treueſten Jünger Jeſu
nicht erwarten konnte.

Ich will jetzt nicht darüber eine Unterſuchung anſtel-
len, ob ſich ein ſo ſtarker Glaube an Jeſum auch bey mir
befinde. Ich will in meiner Prüfung noch weiter zurück-
gehen, und noch den bey dem bekehrten Miſſethäter vor-
hergegangenen Geſinnungen und Gemüthsfaſſungen nach-
denken. Ich habe um ſo viel mehr Urſache dazu, da mich
der Tod unvermutheter überfallen kann, als er den Schä-
cher überfallen konnte. Dieſer konnte mit einiger Ge-
wißheit vorausſehen, daß er noch einige Stunden am Kreu-
ze zu leben hätte: und je näher der Tod auf ihn anrückte,
deſto ernſtlicher konnte er ſich auf denſelben anſchicken. Aber
dis kann ich nicht thun. Ich bin nicht vermögend, nur
mit einiger Zuverläßigkeit vorher zu ſehen, wie nahe oder wie
weit entfernt der Tod von mir ſeyn möchte. Eben ſo we-
nig kann ich mir auf meine letzten Stunden den volligen
Gebrauch meiner Seelenkräfte verſprechen, welcher doch
zu einer wahren Bekehrung unumgänglich nöthig iſt. Da
ich entweder plötzlich, oder langſam ſterben werde, ſo bin

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[164/0186] Sechs und dreyßigſte Betrachtung. Anſcheine nach weniger erwarten, als eben von Jeſu, der damals kaum eine menſchliche, geſchweige eine königliche Ge- ſtalt hatte. Jeſus war nunmehr in die Tiefe des gröſten Elendes herabgeſunken. Er beſaß nichts mehr in dieſer Welt, er hieng nackend am Kreuze, er hatte keine Anhän- ger und Diener. Er war dem Tode nahe, welches bey Königen und Fürſten der Zeitpunkt iſt, wo alle Gröſſe und Hoheit verſchwindet und wo ſich niemand weiter um ihre Gnade bewirbt. Und unter dieſen Umſtänden bat ſich der Schächer eine Gnade von Jeſu aus, die noch über die Gränzen des zeitlichen Lebens hinausreichet. Er bat ihn, daß er ſich ſeiner erinnern möchte, wenn er in ſein Reich ein- gegangen ſeyn würde. Dis war eine Glaube von ſolcher Stärke, als man von einem der treueſten Jünger Jeſu nicht erwarten konnte. Ich will jetzt nicht darüber eine Unterſuchung anſtel- len, ob ſich ein ſo ſtarker Glaube an Jeſum auch bey mir befinde. Ich will in meiner Prüfung noch weiter zurück- gehen, und noch den bey dem bekehrten Miſſethäter vor- hergegangenen Geſinnungen und Gemüthsfaſſungen nach- denken. Ich habe um ſo viel mehr Urſache dazu, da mich der Tod unvermutheter überfallen kann, als er den Schä- cher überfallen konnte. Dieſer konnte mit einiger Ge- wißheit vorausſehen, daß er noch einige Stunden am Kreu- ze zu leben hätte: und je näher der Tod auf ihn anrückte, deſto ernſtlicher konnte er ſich auf denſelben anſchicken. Aber dis kann ich nicht thun. Ich bin nicht vermögend, nur mit einiger Zuverläßigkeit vorher zu ſehen, wie nahe oder wie weit entfernt der Tod von mir ſeyn möchte. Eben ſo we- nig kann ich mir auf meine letzten Stunden den volligen Gebrauch meiner Seelenkräfte verſprechen, welcher doch zu einer wahren Bekehrung unumgänglich nöthig iſt. Da ich entweder plötzlich, oder langſam ſterben werde, ſo bin ich

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/186>, abgerufen am 21.11.2024.