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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Sechs und dreyßigste Betrachtung.
Welt nicht so schrecklich und abscheulich, aber dennoch in
den Augen Gottes verdammungswürdig sind. Um in
Verzweiflung zu gerathen darf ich nicht erst meine Hän-
de mit Menschenblute befleckt, oder mein Vermögen mit
den Gütern der Erschlagenen vermehrt haben; ich darf
nicht jene Schandthaten begangen haben, deren Urheber
die Welt von sich stößt, um Abscheu und Reue in meiner
Seele zu empfinden: jede Sünde kann mich, wenn ich dem
Tode nahe seyn werde, martern, und mich dahin bringen,
daß ich die Quaalen der Verzweiflung empfinde. Und
überhaupt, wenn ich am Rande des Grabes stehe, werde
ich von der Grösse und Verdammlichkeit meiner Ueber-
tretungen ganz anders urtheilen, als ich es in gesunden
Tagen thue. Was mir jetzt ein Sandkorn zu seyn scheint,
wird alsdann meinem Gewissen ein Gebürge werden. Was
ich jetzt für eine Kleinigkeit halte, werde ich alsdann als
eine Sache von der größten Wichtigkeit betrachten. Und
o! möchte ich doch nur alsdann, wenn mein ganzes Glück
auf diesem Urtheile beruhen wird, die ganze Abscheulich-
keit meiner Sünden einsehen!

Und wenn mich nun das lebendigo Vewustseyn
meiner Sünden erschreckt, wenn die Angst meiner See-
le zunimmt, und mein beklommnes Herz keine Erleichte-
rung weis: o so müsse dann dein verdienstlicher Tod, mein
Jesu, meine Zuflucht und die Zuversicht meines Herzens
seyn! Gedenke an mich, gnadenvoller Jesu, wenn ich
mit meiner Sünde kämpfe, und laß mich nicht unterlie-
gen. Gedenke an mich, wenn das Andenken meiner Ju-
gendsünden und der Missethaten meiner reifern Jahre, mei-
nem Herzen bange macht, damit ich nicht verzagen dürfe.
Gedenke an mich in jenen Stunden der Angst, wo niemand
an mich denkt, oder wo das Andenken meiner Freunde an
mich, mir keine Erleichterung verschaffen kann, damit ich

ge-

Sechs und dreyßigſte Betrachtung.
Welt nicht ſo ſchrecklich und abſcheulich, aber dennoch in
den Augen Gottes verdammungswürdig ſind. Um in
Verzweiflung zu gerathen darf ich nicht erſt meine Hän-
de mit Menſchenblute befleckt, oder mein Vermögen mit
den Gütern der Erſchlagenen vermehrt haben; ich darf
nicht jene Schandthaten begangen haben, deren Urheber
die Welt von ſich ſtößt, um Abſcheu und Reue in meiner
Seele zu empfinden: jede Sünde kann mich, wenn ich dem
Tode nahe ſeyn werde, martern, und mich dahin bringen,
daß ich die Quaalen der Verzweiflung empfinde. Und
überhaupt, wenn ich am Rande des Grabes ſtehe, werde
ich von der Gröſſe und Verdammlichkeit meiner Ueber-
tretungen ganz anders urtheilen, als ich es in geſunden
Tagen thue. Was mir jetzt ein Sandkorn zu ſeyn ſcheint,
wird alsdann meinem Gewiſſen ein Gebürge werden. Was
ich jetzt für eine Kleinigkeit halte, werde ich alsdann als
eine Sache von der größten Wichtigkeit betrachten. Und
o! möchte ich doch nur alsdann, wenn mein ganzes Glück
auf dieſem Urtheile beruhen wird, die ganze Abſcheulich-
keit meiner Sünden einſehen!

Und wenn mich nun das lebendigo Vewuſtſeyn
meiner Sünden erſchreckt, wenn die Angſt meiner See-
le zunimmt, und mein beklommnes Herz keine Erleichte-
rung weis: o ſo müſſe dann dein verdienſtlicher Tod, mein
Jeſu, meine Zuflucht und die Zuverſicht meines Herzens
ſeyn! Gedenke an mich, gnadenvoller Jeſu, wenn ich
mit meiner Sünde kämpfe, und laß mich nicht unterlie-
gen. Gedenke an mich, wenn das Andenken meiner Ju-
gendſünden und der Miſſethaten meiner reifern Jahre, mei-
nem Herzen bange macht, damit ich nicht verzagen dürfe.
Gedenke an mich in jenen Stunden der Angſt, wo niemand
an mich denkt, oder wo das Andenken meiner Freunde an
mich, mir keine Erleichterung verſchaffen kann, damit ich

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[166/0188] Sechs und dreyßigſte Betrachtung. Welt nicht ſo ſchrecklich und abſcheulich, aber dennoch in den Augen Gottes verdammungswürdig ſind. Um in Verzweiflung zu gerathen darf ich nicht erſt meine Hän- de mit Menſchenblute befleckt, oder mein Vermögen mit den Gütern der Erſchlagenen vermehrt haben; ich darf nicht jene Schandthaten begangen haben, deren Urheber die Welt von ſich ſtößt, um Abſcheu und Reue in meiner Seele zu empfinden: jede Sünde kann mich, wenn ich dem Tode nahe ſeyn werde, martern, und mich dahin bringen, daß ich die Quaalen der Verzweiflung empfinde. Und überhaupt, wenn ich am Rande des Grabes ſtehe, werde ich von der Gröſſe und Verdammlichkeit meiner Ueber- tretungen ganz anders urtheilen, als ich es in geſunden Tagen thue. Was mir jetzt ein Sandkorn zu ſeyn ſcheint, wird alsdann meinem Gewiſſen ein Gebürge werden. Was ich jetzt für eine Kleinigkeit halte, werde ich alsdann als eine Sache von der größten Wichtigkeit betrachten. Und o! möchte ich doch nur alsdann, wenn mein ganzes Glück auf dieſem Urtheile beruhen wird, die ganze Abſcheulich- keit meiner Sünden einſehen! Und wenn mich nun das lebendigo Vewuſtſeyn meiner Sünden erſchreckt, wenn die Angſt meiner See- le zunimmt, und mein beklommnes Herz keine Erleichte- rung weis: o ſo müſſe dann dein verdienſtlicher Tod, mein Jeſu, meine Zuflucht und die Zuverſicht meines Herzens ſeyn! Gedenke an mich, gnadenvoller Jeſu, wenn ich mit meiner Sünde kämpfe, und laß mich nicht unterlie- gen. Gedenke an mich, wenn das Andenken meiner Ju- gendſünden und der Miſſethaten meiner reifern Jahre, mei- nem Herzen bange macht, damit ich nicht verzagen dürfe. Gedenke an mich in jenen Stunden der Angſt, wo niemand an mich denkt, oder wo das Andenken meiner Freunde an mich, mir keine Erleichterung verſchaffen kann, damit ich ge-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/188>, abgerufen am 24.11.2024.