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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Durst Jesu am Kreuze.
vollendet werden konnte. Er mußte noch den peinlichen
Durst fühlen, und zur Vermehrung seines Leidens mit
dem elendesten Labsal zufrieden seyn. Dis war der Au-
genblick, wo jene Worte in ihrem ganzen Umfange an ihm
erfüllt wurden: ich bin ausgeschüttet wie Wasser: al-
le meine Gebeine haben sich zertrennet: mein Herz
ist in meinem Leibe wie zerschmolzen Wachs. Mei-
ne Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und
meine Zunge klebet an meinem Gaumen.
(Ps. 22,
15. 16.) In weniger als zwölf Stunden hatte er solche
Leiden ausgestanden, die seine Kräfte erschöpften, seine
Säfte vertrockneten und seine Lebensgeister verzehrten. Es
war daher nicht zu verwundern, daß sein lechzender Mund
eine Erquickung verlangte. Zugleich aber war in seiner
Seele ein zwiefaches grosses Verlangen, nach einem viel
höhern Labsal. Er dürstete nach den Seligkeiten in dem
Schoße seines Vaters; er sehnte sich nach dem Heile der
Sünderwelt, für welche er bisher so unsägliche Martern
ausgestanden hatte.

Hier finde ich eine Abbildung von demjenigen Zu-
stande, in welchen mich einst der Tod versetzen wird.
Wenn ich auch nicht am Kreuze sterbe, wenn ich auch
nicht so heftige Ermattungen auszustehen habe, oder solche
Schmerzen vor meiner Auflösung empfinde, so werde ich
doch auch nach Erquickung lechzen müssen. Jenes ver-
zehrende Feuer, das in meinen Eingeweiden wallt, jenes
stockende Blut, jener kalte Schweis, der meine
Glieder bedeckt, wird mich mit heissem Durst nach Labsal
erfüllen. Und wie weit glücklicher, als Jesus, werde ich
in diesen Umständen seyn! Meine Freunde, meine Be-
kannten, ja selbst meine ergrimmtesten Feinde werden aus
Mitleiden mir einen Labetrank reichen. Zum wenigsten
wird mich ein Trunk Wasser erquicken; zum wenigsten

wer-
Sturms Leidensgeschichte. M

Durſt Jeſu am Kreuze.
vollendet werden konnte. Er mußte noch den peinlichen
Durſt fühlen, und zur Vermehrung ſeines Leidens mit
dem elendeſten Labſal zufrieden ſeyn. Dis war der Au-
genblick, wo jene Worte in ihrem ganzen Umfange an ihm
erfüllt wurden: ich bin ausgeſchüttet wie Waſſer: al-
le meine Gebeine haben ſich zertrennet: mein Herz
iſt in meinem Leibe wie zerſchmolzen Wachs. Mei-
ne Kräfte ſind vertrocknet wie eine Scherbe, und
meine Zunge klebet an meinem Gaumen.
(Pſ. 22,
15. 16.) In weniger als zwölf Stunden hatte er ſolche
Leiden ausgeſtanden, die ſeine Kräfte erſchöpften, ſeine
Säfte vertrockneten und ſeine Lebensgeiſter verzehrten. Es
war daher nicht zu verwundern, daß ſein lechzender Mund
eine Erquickung verlangte. Zugleich aber war in ſeiner
Seele ein zwiefaches groſſes Verlangen, nach einem viel
höhern Labſal. Er dürſtete nach den Seligkeiten in dem
Schoße ſeines Vaters; er ſehnte ſich nach dem Heile der
Sünderwelt, für welche er bisher ſo unſägliche Martern
ausgeſtanden hatte.

Hier finde ich eine Abbildung von demjenigen Zu-
ſtande, in welchen mich einſt der Tod verſetzen wird.
Wenn ich auch nicht am Kreuze ſterbe, wenn ich auch
nicht ſo heftige Ermattungen auszuſtehen habe, oder ſolche
Schmerzen vor meiner Auflöſung empfinde, ſo werde ich
doch auch nach Erquickung lechzen müſſen. Jenes ver-
zehrende Feuer, das in meinen Eingeweiden wallt, jenes
ſtockende Blut, jener kalte Schweis, der meine
Glieder bedeckt, wird mich mit heiſſem Durſt nach Labſal
erfüllen. Und wie weit glücklicher, als Jeſus, werde ich
in dieſen Umſtänden ſeyn! Meine Freunde, meine Be-
kannten, ja ſelbſt meine ergrimmteſten Feinde werden aus
Mitleiden mir einen Labetrank reichen. Zum wenigſten
wird mich ein Trunk Waſſer erquicken; zum wenigſten

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Sturms Leidensgeſchichte. M
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[177/0199] Durſt Jeſu am Kreuze. vollendet werden konnte. Er mußte noch den peinlichen Durſt fühlen, und zur Vermehrung ſeines Leidens mit dem elendeſten Labſal zufrieden ſeyn. Dis war der Au- genblick, wo jene Worte in ihrem ganzen Umfange an ihm erfüllt wurden: ich bin ausgeſchüttet wie Waſſer: al- le meine Gebeine haben ſich zertrennet: mein Herz iſt in meinem Leibe wie zerſchmolzen Wachs. Mei- ne Kräfte ſind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebet an meinem Gaumen. (Pſ. 22, 15. 16.) In weniger als zwölf Stunden hatte er ſolche Leiden ausgeſtanden, die ſeine Kräfte erſchöpften, ſeine Säfte vertrockneten und ſeine Lebensgeiſter verzehrten. Es war daher nicht zu verwundern, daß ſein lechzender Mund eine Erquickung verlangte. Zugleich aber war in ſeiner Seele ein zwiefaches groſſes Verlangen, nach einem viel höhern Labſal. Er dürſtete nach den Seligkeiten in dem Schoße ſeines Vaters; er ſehnte ſich nach dem Heile der Sünderwelt, für welche er bisher ſo unſägliche Martern ausgeſtanden hatte. Hier finde ich eine Abbildung von demjenigen Zu- ſtande, in welchen mich einſt der Tod verſetzen wird. Wenn ich auch nicht am Kreuze ſterbe, wenn ich auch nicht ſo heftige Ermattungen auszuſtehen habe, oder ſolche Schmerzen vor meiner Auflöſung empfinde, ſo werde ich doch auch nach Erquickung lechzen müſſen. Jenes ver- zehrende Feuer, das in meinen Eingeweiden wallt, jenes ſtockende Blut, jener kalte Schweis, der meine Glieder bedeckt, wird mich mit heiſſem Durſt nach Labſal erfüllen. Und wie weit glücklicher, als Jeſus, werde ich in dieſen Umſtänden ſeyn! Meine Freunde, meine Be- kannten, ja ſelbſt meine ergrimmteſten Feinde werden aus Mitleiden mir einen Labetrank reichen. Zum wenigſten wird mich ein Trunk Waſſer erquicken; zum wenigſten wer- Sturms Leidensgeſchichte. M

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/199>, abgerufen am 18.06.2024.