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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Neunte Betrachtung.
Der Rath Gottes in Ansehung des
Todes Jesu.
Joh. 18, 12. 13. 14.
Die Schaar aber und der Oberhauptmann, und die Diener der
Jüden, nahmen Jesum, und bunden ihn. Und führten ihn
aufs erste zu Hannas, der war Calphas Schwäher, welcher
des Jahres Hoherpriester war. Es war aber Caiphas, der
den Jüden rieth, es wäre gut, daß ein Mensch würde um-
bracht für das Volk.

Unter denjenigen Personen, welche bey der Verurthei-
lung Jesu aus verderbter Weltklugheit handelten,
war Caiphas einer der vornehmsten. Er sahe als
Richter nicht darauf, was den Gesetzen gemäß war, son-
dern als ein arglistiger Staatsmann bemerkte er nur, was
zuträglich war. Er nahm den Grundsatz an, daß
es besser wäre, wenn ein Unschuldiger stürbe, als wenn
durch das Leben eines Unschuldigen ein ganzes Volk zu
Grunde gienge. Nach dieser Maxime glaubte er, wür-
de es für den Staat vortheilhaft seyn, wenn Jesus ster-
ben würde. So gottlos dieser Gedanke war, so bediente
sich doch Gott dieses Umstandes, seinen von Ewigkeit her
gefaßten Rath in Ansehung des Todes Jesu hinauszufüh-
ren. Und diesem weisen und heiligen Rath will ich zu
meiner Ueberzeugung und Beruhigung jetzt in der Stille
nachdenken.

Bey dem ganzen Leiden Jesu fand kein blindes
Ohngefähr statt. Es geschah nicht durch einen unbestimm-
ten Zufall, daß er diese oder jene Schmach, diese oder jene

Lei-




Neunte Betrachtung.
Der Rath Gottes in Anſehung des
Todes Jeſu.
Joh. 18, 12. 13. 14.
Die Schaar aber und der Oberhauptmann, und die Diener der
Jüden, nahmen Jeſum, und bunden ihn. Und führten ihn
aufs erſte zu Hannas, der war Calphas Schwäher, welcher
des Jahres Hoherprieſter war. Es war aber Caiphas, der
den Jüden rieth, es wäre gut, daß ein Menſch würde um-
bracht für das Volk.

Unter denjenigen Perſonen, welche bey der Verurthei-
lung Jeſu aus verderbter Weltklugheit handelten,
war Caiphas einer der vornehmſten. Er ſahe als
Richter nicht darauf, was den Geſetzen gemäß war, ſon-
dern als ein argliſtiger Staatsmann bemerkte er nur, was
zuträglich war. Er nahm den Grundſatz an, daß
es beſſer wäre, wenn ein Unſchuldiger ſtürbe, als wenn
durch das Leben eines Unſchuldigen ein ganzes Volk zu
Grunde gienge. Nach dieſer Maxime glaubte er, wür-
de es für den Staat vortheilhaft ſeyn, wenn Jeſus ſter-
ben würde. So gottlos dieſer Gedanke war, ſo bediente
ſich doch Gott dieſes Umſtandes, ſeinen von Ewigkeit her
gefaßten Rath in Anſehung des Todes Jeſu hinauszufüh-
ren. Und dieſem weiſen und heiligen Rath will ich zu
meiner Ueberzeugung und Beruhigung jetzt in der Stille
nachdenken.

Bey dem ganzen Leiden Jeſu fand kein blindes
Ohngefähr ſtatt. Es geſchah nicht durch einen unbeſtimm-
ten Zufall, daß er dieſe oder jene Schmach, dieſe oder jene

Lei-
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[45/0067] Neunte Betrachtung. Der Rath Gottes in Anſehung des Todes Jeſu. Joh. 18, 12. 13. 14. Die Schaar aber und der Oberhauptmann, und die Diener der Jüden, nahmen Jeſum, und bunden ihn. Und führten ihn aufs erſte zu Hannas, der war Calphas Schwäher, welcher des Jahres Hoherprieſter war. Es war aber Caiphas, der den Jüden rieth, es wäre gut, daß ein Menſch würde um- bracht für das Volk. Unter denjenigen Perſonen, welche bey der Verurthei- lung Jeſu aus verderbter Weltklugheit handelten, war Caiphas einer der vornehmſten. Er ſahe als Richter nicht darauf, was den Geſetzen gemäß war, ſon- dern als ein argliſtiger Staatsmann bemerkte er nur, was zuträglich war. Er nahm den Grundſatz an, daß es beſſer wäre, wenn ein Unſchuldiger ſtürbe, als wenn durch das Leben eines Unſchuldigen ein ganzes Volk zu Grunde gienge. Nach dieſer Maxime glaubte er, wür- de es für den Staat vortheilhaft ſeyn, wenn Jeſus ſter- ben würde. So gottlos dieſer Gedanke war, ſo bediente ſich doch Gott dieſes Umſtandes, ſeinen von Ewigkeit her gefaßten Rath in Anſehung des Todes Jeſu hinauszufüh- ren. Und dieſem weiſen und heiligen Rath will ich zu meiner Ueberzeugung und Beruhigung jetzt in der Stille nachdenken. Bey dem ganzen Leiden Jeſu fand kein blindes Ohngefähr ſtatt. Es geſchah nicht durch einen unbeſtimm- ten Zufall, daß er dieſe oder jene Schmach, dieſe oder jene Lei-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/67>, abgerufen am 24.11.2024.