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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Auf
in den lateinischen Lustspielen, die Aufzüge ganz
an einander hangen, und ofte sehr schweer von ein-
ander zu unterscheiden sind.

Diesem nach wäre es vergeblich, in der Natur
der Sache einen Grund für die Regel des Horaz
zu suchen:

Neve minor, neu sit quinto productior actu
(*) DeArt.
189. 190.
Fabula, quae posci vult, et spectata reponi. (*)

Man kann bey mehrern Gelegenheiten merken,
daß die Alten dasjenige, was die ersten Erfinder
blos zufälliger Weise für gut gefunden, zu einer
nothwendigen Regel gemacht haben. Alle drama-
tischen Stüke der Alten sind offenbar in fünf Auf-
zügen. Jm Trauerspiel ist allemal eine Zwischen-
zeit von einem zum andern; nur im lateinischen
Lustspiel fehlt sie bisweilen. Diese Zwischenzeit
wurde durch den Gesang des Chors angefüllt; im
Lustspiel wurde anfänglich darin getanzt, welches
doch nicht allezeit geschehen ist. Darin aber unter-
scheidet sich der Gebrauch der Alten von dem heu-
tigen, daß jene die Handlung in dem Zwischen-
Raum nicht so weit fortrüken ließen, als die Neuern
zu thun gewohnt sind. Denn gemeimglich wird im
alten Drama, bey jedem neuen Aufzug, die Hand-
lung da fortgesetzt, wo sie am Ende des vorigen ge-
lassen worden. Es giebt Trauerspiele, die offenbar
nur aus einem Aufzug bestehen würden, wenn man
die Chöre daraus weg ließe. Die Neuern lassen
vieles in dieser Zeit hinter der Bühne geschehen.

Doch findet man auch Beyspiele bey den Alten,
daß die Handlung zwischen zwey Aufzügen hinter
der Bühne fortgeht. Jn den um Schutz flehenden
des Euripides versammlet Theseus zwischen dem 2.
und 3. Aufzug das atheniensische Volk, und dieses faßt
den Schluß die Thebaner zu bekriegen, falls sie
die Leichname der erschlagenen Argiver nicht wollten
zum Begräbniß verabfolgen lassen.

Die Gewohnheit, das Drama in fünf oder in
drey Aufzüge einzutheilen, beyseits gesetzet, so läßt
sich noch verschiedenes über die Nothwendigkeit
oder den Nutzen der Aufzüge anführen. Erstlich
ist zu überlegen, ob es nicht für den Zuschauer
etwas ermüdend seyn würde, eine so lange Vorstel-
lung ununterbrochen anzusehen. Da es höchst wich-
tig ist, daß die Aufmerksamkeit des Zuschauers kei-
nen Augenblik schlaff werde, so muß man auch
äußerliche Mittel anwenden, sie in der Lebhaftig-
keit zu unterhalten. Dieses scheinet eine kleine Un-
[Spaltenumbruch]

Auf
terbrechung zu thun. Dazu kömmt noch, daß
jeder Zwischenraum, insonderheit, wenn der Auf-
zug in einer Verwiklung zu Ende geht, eine Auf-
haltung
macht, und also die Aufmerksamkeit reizet.

Hiernächst ist es dem Zwek des Schauspiels ge-
mäß, daß der Zuschauer bisweilen Zeit habe, so
wol das vorhergehende in eine Hauptvorstellung
zusammen zu fassen, als über einzele Theile dersel-
ben nachzudenken, wozu ihm die Zwischenzeit Ge-
legenheit giebt. Jn der griechischen Tragedie war
ihm der Chor zu beyden Absichten behülflich, und
es ist offenbar, daß die meisten griechischen Chöre
aus diesem Gesichtspunkt verfertiget worden. Sie
sind Ruhepunkte, wo die gemachten Eindrüke sich
etwas setzen und befestigen können. Es ist deswe-
gen sehr übel gethan, wenn die Zwischenzeit mit
solchen Vorstellungen des Tanzes oder der Musik
besetzt wird, die diese hindern. S. Zwischenzeit.

Ein solcher Abschnitt kann auch in gewissen Fäl-
len für die Handlung nothwendig werden. Es
trifft sich oft, daß der Dichter nur eine Person muß
auftreten lassen, die nicht anders, als allein erschei-
nen kann. Diesem Umstand zu gefallen muß bis-
weilen eine Unterbrechung veranstaltet werden, oder
eine Person, die allein auf der Schaubühne geblie-
ben ist, muß nothwendig, ehe die Handlung wei-
ter kann fortgesetzt werden, weggehen, z. E. einige
Erkundigung einzuziehen: alsdenn entsteht noth-
wendig ein Zwischenraum. Bisweilen beruhet der
Fortgang der Handlung auf Sachen, die auf der
Bühne gar nicht können vorgestellt werden: alsdenn
ist die Abbrechung gänzlich nothwendig. Z. E. der
Ausgang des Trauerspiels, die sieben Helden von
Theben, beruhet auf dem Streit der beyden Brüder.
Nachdem alles dazu fertig ist, muß die Handlung
nothwendig still stehen, bis dieser Streit vorbey ist.
Wenn der Dichter diesen Raum, wie in einigen
neuen Schauspielen geschieht, blos mit Reden über
allgemeine Moralen, oder locos communes anfül-
len wollte, so würde er langweilig werden. (*)

(*) S. Pra-
ctique du
theatre
par l' abbe
d' Aubi-
gnac L. III.
ch.
6.

Aus diesen Betrachtungen muß der Dichter
seine Eintheilung der Aufzüge herleiten. Die
Handlung muß allemal so abgebrochen werden, daß
die Aufhaltung einen der erwähnten Umstände zum
Grunde habe. Von der willkührlichen Regel und
Gewohnheit einiger Neuern, daß alle Aufzüge ohn-
gefähr gleich lang seyn sollen, weiß die Natur
nichts, und die Alten haben nicht daran gedacht.

Sie

[Spaltenumbruch]

Auf
in den lateiniſchen Luſtſpielen, die Aufzuͤge ganz
an einander hangen, und ofte ſehr ſchweer von ein-
ander zu unterſcheiden ſind.

Dieſem nach waͤre es vergeblich, in der Natur
der Sache einen Grund fuͤr die Regel des Horaz
zu ſuchen:

Neve minor, neu ſit quinto productior actu
(*) DeArt.
189. 190.
Fabula, quae poſci vult, et ſpectata reponi. (*)

Man kann bey mehrern Gelegenheiten merken,
daß die Alten dasjenige, was die erſten Erfinder
blos zufaͤlliger Weiſe fuͤr gut gefunden, zu einer
nothwendigen Regel gemacht haben. Alle drama-
tiſchen Stuͤke der Alten ſind offenbar in fuͤnf Auf-
zuͤgen. Jm Trauerſpiel iſt allemal eine Zwiſchen-
zeit von einem zum andern; nur im lateiniſchen
Luſtſpiel fehlt ſie bisweilen. Dieſe Zwiſchenzeit
wurde durch den Geſang des Chors angefuͤllt; im
Luſtſpiel wurde anfaͤnglich darin getanzt, welches
doch nicht allezeit geſchehen iſt. Darin aber unter-
ſcheidet ſich der Gebrauch der Alten von dem heu-
tigen, daß jene die Handlung in dem Zwiſchen-
Raum nicht ſo weit fortruͤken ließen, als die Neuern
zu thun gewohnt ſind. Denn gemeimglich wird im
alten Drama, bey jedem neuen Aufzug, die Hand-
lung da fortgeſetzt, wo ſie am Ende des vorigen ge-
laſſen worden. Es giebt Trauerſpiele, die offenbar
nur aus einem Aufzug beſtehen wuͤrden, wenn man
die Choͤre daraus weg ließe. Die Neuern laſſen
vieles in dieſer Zeit hinter der Buͤhne geſchehen.

Doch findet man auch Beyſpiele bey den Alten,
daß die Handlung zwiſchen zwey Aufzuͤgen hinter
der Buͤhne fortgeht. Jn den um Schutz flehenden
des Euripides verſammlet Theſeus zwiſchen dem 2.
und 3. Aufzug das athenienſiſche Volk, und dieſes faßt
den Schluß die Thebaner zu bekriegen, falls ſie
die Leichname der erſchlagenen Argiver nicht wollten
zum Begraͤbniß verabfolgen laſſen.

Die Gewohnheit, das Drama in fuͤnf oder in
drey Aufzuͤge einzutheilen, beyſeits geſetzet, ſo laͤßt
ſich noch verſchiedenes uͤber die Nothwendigkeit
oder den Nutzen der Aufzuͤge anfuͤhren. Erſtlich
iſt zu uͤberlegen, ob es nicht fuͤr den Zuſchauer
etwas ermuͤdend ſeyn wuͤrde, eine ſo lange Vorſtel-
lung ununterbrochen anzuſehen. Da es hoͤchſt wich-
tig iſt, daß die Aufmerkſamkeit des Zuſchauers kei-
nen Augenblik ſchlaff werde, ſo muß man auch
aͤußerliche Mittel anwenden, ſie in der Lebhaftig-
keit zu unterhalten. Dieſes ſcheinet eine kleine Un-
[Spaltenumbruch]

Auf
terbrechung zu thun. Dazu koͤmmt noch, daß
jeder Zwiſchenraum, inſonderheit, wenn der Auf-
zug in einer Verwiklung zu Ende geht, eine Auf-
haltung
macht, und alſo die Aufmerkſamkeit reizet.

Hiernaͤchſt iſt es dem Zwek des Schauſpiels ge-
maͤß, daß der Zuſchauer bisweilen Zeit habe, ſo
wol das vorhergehende in eine Hauptvorſtellung
zuſammen zu faſſen, als uͤber einzele Theile derſel-
ben nachzudenken, wozu ihm die Zwiſchenzeit Ge-
legenheit giebt. Jn der griechiſchen Tragedie war
ihm der Chor zu beyden Abſichten behuͤlflich, und
es iſt offenbar, daß die meiſten griechiſchen Choͤre
aus dieſem Geſichtspunkt verfertiget worden. Sie
ſind Ruhepunkte, wo die gemachten Eindruͤke ſich
etwas ſetzen und befeſtigen koͤnnen. Es iſt deswe-
gen ſehr uͤbel gethan, wenn die Zwiſchenzeit mit
ſolchen Vorſtellungen des Tanzes oder der Muſik
beſetzt wird, die dieſe hindern. S. Zwiſchenzeit.

Ein ſolcher Abſchnitt kann auch in gewiſſen Faͤl-
len fuͤr die Handlung nothwendig werden. Es
trifft ſich oft, daß der Dichter nur eine Perſon muß
auftreten laſſen, die nicht anders, als allein erſchei-
nen kann. Dieſem Umſtand zu gefallen muß bis-
weilen eine Unterbrechung veranſtaltet werden, oder
eine Perſon, die allein auf der Schaubuͤhne geblie-
ben iſt, muß nothwendig, ehe die Handlung wei-
ter kann fortgeſetzt werden, weggehen, z. E. einige
Erkundigung einzuziehen: alsdenn entſteht noth-
wendig ein Zwiſchenraum. Bisweilen beruhet der
Fortgang der Handlung auf Sachen, die auf der
Buͤhne gar nicht koͤnnen vorgeſtellt werden: alsdenn
iſt die Abbrechung gaͤnzlich nothwendig. Z. E. der
Ausgang des Trauerſpiels, die ſieben Helden von
Theben, beruhet auf dem Streit der beyden Bruͤder.
Nachdem alles dazu fertig iſt, muß die Handlung
nothwendig ſtill ſtehen, bis dieſer Streit vorbey iſt.
Wenn der Dichter dieſen Raum, wie in einigen
neuen Schauſpielen geſchieht, blos mit Reden uͤber
allgemeine Moralen, oder locos communes anfuͤl-
len wollte, ſo wuͤrde er langweilig werden. (*)

(*) S. Pra-
ctique du
théatre
par l’ abbé
d’ Aubi-
gnac L. III.
ch.
6.

Aus dieſen Betrachtungen muß der Dichter
ſeine Eintheilung der Aufzuͤge herleiten. Die
Handlung muß allemal ſo abgebrochen werden, daß
die Aufhaltung einen der erwaͤhnten Umſtaͤnde zum
Grunde habe. Von der willkuͤhrlichen Regel und
Gewohnheit einiger Neuern, daß alle Aufzuͤge ohn-
gefaͤhr gleich lang ſeyn ſollen, weiß die Natur
nichts, und die Alten haben nicht daran gedacht.

Sie
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[92/0104] Auf Auf in den lateiniſchen Luſtſpielen, die Aufzuͤge ganz an einander hangen, und ofte ſehr ſchweer von ein- ander zu unterſcheiden ſind. Dieſem nach waͤre es vergeblich, in der Natur der Sache einen Grund fuͤr die Regel des Horaz zu ſuchen: Neve minor, neu ſit quinto productior actu Fabula, quae poſci vult, et ſpectata reponi. (*) Man kann bey mehrern Gelegenheiten merken, daß die Alten dasjenige, was die erſten Erfinder blos zufaͤlliger Weiſe fuͤr gut gefunden, zu einer nothwendigen Regel gemacht haben. Alle drama- tiſchen Stuͤke der Alten ſind offenbar in fuͤnf Auf- zuͤgen. Jm Trauerſpiel iſt allemal eine Zwiſchen- zeit von einem zum andern; nur im lateiniſchen Luſtſpiel fehlt ſie bisweilen. Dieſe Zwiſchenzeit wurde durch den Geſang des Chors angefuͤllt; im Luſtſpiel wurde anfaͤnglich darin getanzt, welches doch nicht allezeit geſchehen iſt. Darin aber unter- ſcheidet ſich der Gebrauch der Alten von dem heu- tigen, daß jene die Handlung in dem Zwiſchen- Raum nicht ſo weit fortruͤken ließen, als die Neuern zu thun gewohnt ſind. Denn gemeimglich wird im alten Drama, bey jedem neuen Aufzug, die Hand- lung da fortgeſetzt, wo ſie am Ende des vorigen ge- laſſen worden. Es giebt Trauerſpiele, die offenbar nur aus einem Aufzug beſtehen wuͤrden, wenn man die Choͤre daraus weg ließe. Die Neuern laſſen vieles in dieſer Zeit hinter der Buͤhne geſchehen. Doch findet man auch Beyſpiele bey den Alten, daß die Handlung zwiſchen zwey Aufzuͤgen hinter der Buͤhne fortgeht. Jn den um Schutz flehenden des Euripides verſammlet Theſeus zwiſchen dem 2. und 3. Aufzug das athenienſiſche Volk, und dieſes faßt den Schluß die Thebaner zu bekriegen, falls ſie die Leichname der erſchlagenen Argiver nicht wollten zum Begraͤbniß verabfolgen laſſen. Die Gewohnheit, das Drama in fuͤnf oder in drey Aufzuͤge einzutheilen, beyſeits geſetzet, ſo laͤßt ſich noch verſchiedenes uͤber die Nothwendigkeit oder den Nutzen der Aufzuͤge anfuͤhren. Erſtlich iſt zu uͤberlegen, ob es nicht fuͤr den Zuſchauer etwas ermuͤdend ſeyn wuͤrde, eine ſo lange Vorſtel- lung ununterbrochen anzuſehen. Da es hoͤchſt wich- tig iſt, daß die Aufmerkſamkeit des Zuſchauers kei- nen Augenblik ſchlaff werde, ſo muß man auch aͤußerliche Mittel anwenden, ſie in der Lebhaftig- keit zu unterhalten. Dieſes ſcheinet eine kleine Un- terbrechung zu thun. Dazu koͤmmt noch, daß jeder Zwiſchenraum, inſonderheit, wenn der Auf- zug in einer Verwiklung zu Ende geht, eine Auf- haltung macht, und alſo die Aufmerkſamkeit reizet. Hiernaͤchſt iſt es dem Zwek des Schauſpiels ge- maͤß, daß der Zuſchauer bisweilen Zeit habe, ſo wol das vorhergehende in eine Hauptvorſtellung zuſammen zu faſſen, als uͤber einzele Theile derſel- ben nachzudenken, wozu ihm die Zwiſchenzeit Ge- legenheit giebt. Jn der griechiſchen Tragedie war ihm der Chor zu beyden Abſichten behuͤlflich, und es iſt offenbar, daß die meiſten griechiſchen Choͤre aus dieſem Geſichtspunkt verfertiget worden. Sie ſind Ruhepunkte, wo die gemachten Eindruͤke ſich etwas ſetzen und befeſtigen koͤnnen. Es iſt deswe- gen ſehr uͤbel gethan, wenn die Zwiſchenzeit mit ſolchen Vorſtellungen des Tanzes oder der Muſik beſetzt wird, die dieſe hindern. S. Zwiſchenzeit. Ein ſolcher Abſchnitt kann auch in gewiſſen Faͤl- len fuͤr die Handlung nothwendig werden. Es trifft ſich oft, daß der Dichter nur eine Perſon muß auftreten laſſen, die nicht anders, als allein erſchei- nen kann. Dieſem Umſtand zu gefallen muß bis- weilen eine Unterbrechung veranſtaltet werden, oder eine Perſon, die allein auf der Schaubuͤhne geblie- ben iſt, muß nothwendig, ehe die Handlung wei- ter kann fortgeſetzt werden, weggehen, z. E. einige Erkundigung einzuziehen: alsdenn entſteht noth- wendig ein Zwiſchenraum. Bisweilen beruhet der Fortgang der Handlung auf Sachen, die auf der Buͤhne gar nicht koͤnnen vorgeſtellt werden: alsdenn iſt die Abbrechung gaͤnzlich nothwendig. Z. E. der Ausgang des Trauerſpiels, die ſieben Helden von Theben, beruhet auf dem Streit der beyden Bruͤder. Nachdem alles dazu fertig iſt, muß die Handlung nothwendig ſtill ſtehen, bis dieſer Streit vorbey iſt. Wenn der Dichter dieſen Raum, wie in einigen neuen Schauſpielen geſchieht, blos mit Reden uͤber allgemeine Moralen, oder locos communes anfuͤl- len wollte, ſo wuͤrde er langweilig werden. (*) Aus dieſen Betrachtungen muß der Dichter ſeine Eintheilung der Aufzuͤge herleiten. Die Handlung muß allemal ſo abgebrochen werden, daß die Aufhaltung einen der erwaͤhnten Umſtaͤnde zum Grunde habe. Von der willkuͤhrlichen Regel und Gewohnheit einiger Neuern, daß alle Aufzuͤge ohn- gefaͤhr gleich lang ſeyn ſollen, weiß die Natur nichts, und die Alten haben nicht daran gedacht. Sie

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/104>, abgerufen am 28.04.2024.