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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus

das Wort porca eine Annehmlichkeit habe, die das
porco nicht hätte. Der Grund liegt ohne Zweifel
darin, daß das weibliche Geschlecht der Wörter
bisweilen auch etwas sanfteres in der Einbildungs-
kraft erwekt, als das männliche. Daher wird
gewiß in allen Fällen, wo die Wörter Reh, Hirsch,
Hindin der Bedeutung nach gleichgültig wären,
das lezte angenehmer seyn, als die andern. Die-
ses hat auch ein Scholiast über folgende Stelle des
Horaz angemerkt:

Nunc et in umbrosis fauno decet immolare lucis
(*) Od.
L. I.
4.
Seu poscat agna seu malit haedo. (*)

Wo er über das Wort Agna sagt: Nescio quomo-
do quaedam elocutiones per foemininum genus
gratiores fiunt.

Hieher gehört auch, daß die Griechen, so wie
auch die Deutschen, bisweilen in dem unbestimmten
Geschlecht weiblicher Namen, eine Annehmlichkeit
finden. Dem Deutschen ist der Ausdruk; das schöne
Kind, das liebe Mädchen, angenehmer als diese:
die schöne Person, die liebe Tochter; und den Grie-
chen scheinen solche weibliche Namen, wie Leontium,
Musarion
u. d. gl. angenehmer, als die von weib-
licher Endigung.

Das Herz findet den Ausdruk angenehm, der
etwas leidenschaftliches hat, der zärtlich, pathetisch,
sanft, heftig, und jeder Leidenschaft angemessen ist.

Jn Ansehung des Charakters ist der Ausdruk
entweder niedrig, gemein, oder edel, oder groß
oder erhaben, ernsthaft oder comisch, und so kann
auch der Ton ganzer Redensarten seyn. Von die-
sen verschiedenen Charakteren, die der Ausdruk bey
einerley Bedeutung annehmen kann, ist in so viel
besondern Artikeln umständlich genug gefprochen
worden.

Der Ausdruk, der schon durch den bloßen Klang
einen besondern Charakter annimmt, wird von einigen
Kunstrichtern, der lebendige Ausdruk genennt,
und ist auch besonders betrachtet worden.

Ausdruk in zeichnenden Künsten. Man sagt
von dem Zeichner, er sey im Ausdruk stark, wenn
seine Figuren Leben, Gedanken und Empfindung zu
haben scheinen. Durch den Ausdruk der Zeichnung
wird der unsichtbare Geist sichtbar. Diese erhabene
Kunst ist eine Erfindung der Natur. Nur dem unend-
lichen Genie war es möglich, der Materie Empfindung
zu geben. Dadurch wird die Mahlerey zu der wun-
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Aus
derbaresten Kunst, weil sie blos durch Farben jede
Empfindung der Seele rege machen kann: bloße
Schatten werden durch die Zauberey des Ausdruks
in denkende und empfindende Wesen verwandelt.
Ohne diese Kunst ist ein gemahltes und geschnitztes
Bild eine öde Form, die keinem denkenden Wesen
gefallen kann; durch sie wird es zu einem handeln-
den Wesen, mit dem wir unser Herz theilen.

Die größte Bestrebung des zeichnenden Künst-
lers muß auf diesen Theil gerichtet seyn, ohne wel-
chen alles übrige nichts ist. Callistratus nennte
die Bildhauerey die Kunst Sitten auszudrüken, (*)(*) #.
und zeigte dadurch an, daß der Ausdruk der eigent-
liche Zwek dieser Kunst sey. Nach den würklichen
Scenen des menschlichen Lebens und deren vollkom-
menen Vorstellung auf der Schaubühne, würkt
nichts so sehr auf den Geist, als Gemählde von
vollkommenem Ausdruk. Sie erweken in dem
Geist Bestrebungen nach Vollkommenheit, und flößen
dem Herzen Empfindungen ein. Wie ein Jüng-
ling durch die Kraft der Schönheit zu einer Liebe
gereizt wird, die seine ganze Seele einnimmt, so
wird durch die Kraft des Ausdruks jeder empfin-
dende Mensch mit Bewunderung des Großen, mit
Liebe zum Guten, mit Abscheu für das Böse, er-
füllt. Themistokles konnte bey dem Andenken an
die Siegeszeichen des Miltiades nicht schlafen, so
sehr wurd dadurch seine Seele mit edler Ruhmbe-
gierd entflammt; wie viel mehr muß nicht ein edles
Herz empfinden, wenn nicht blos ein Zeichen der
Größe einer Seele, sondern diese Seele selbst, vors
Gesichte gestellt wird. Kann die Tugend, die blos
als ein Schattenbild in unsrer Einbildungskraft
schwebet, die stärkste Bewunderung erweken, was
muß nicht denn geschehen, wenn sie in sichtbarer
Gestalt, und in hellem Lichte vor uns steht?
Wenn wir in den würklichen Scenen des Lebens
das Glük haben, Menschen in dem Augenblik zu
sehen, da ihre Seele mit großen Empfindungen
erfüllt ist, so gehen diese Scenen schnell vor dem
Gesichte vorbey; aber der Künstler hält diese kost-
baren Augenblike für uns fest. Unser Aug kann
so lang darauf verweilen, bis es gesättiget ist, wenn
hier eine Sätigung statt hat; wir genießen den
Gegenstand so lange, bis er seine völlige Würkung
auf uns gethan hat.

Aber durch welchen Weg, durch welche Stufen
gelanget der Künstler zu diesem höchsten Gipfel

der
Erster Theil. O
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Aus

das Wort porca eine Annehmlichkeit habe, die das
porco nicht haͤtte. Der Grund liegt ohne Zweifel
darin, daß das weibliche Geſchlecht der Woͤrter
bisweilen auch etwas ſanfteres in der Einbildungs-
kraft erwekt, als das maͤnnliche. Daher wird
gewiß in allen Faͤllen, wo die Woͤrter Reh, Hirſch,
Hindin der Bedeutung nach gleichguͤltig waͤren,
das lezte angenehmer ſeyn, als die andern. Die-
ſes hat auch ein Scholiaſt uͤber folgende Stelle des
Horaz angemerkt:

Nunc et in umbroſis fauno decet immolare lucis
(*) Od.
L. I.
4.
Seu poſcat agna ſeu malit haedo. (*)

Wo er uͤber das Wort Agna ſagt: Neſcio quomo-
do quaedam elocutiones per foemininum genus
gratiores fiunt.

Hieher gehoͤrt auch, daß die Griechen, ſo wie
auch die Deutſchen, bisweilen in dem unbeſtimmten
Geſchlecht weiblicher Namen, eine Annehmlichkeit
finden. Dem Deutſchen iſt der Ausdruk; das ſchoͤne
Kind, das liebe Maͤdchen, angenehmer als dieſe:
die ſchoͤne Perſon, die liebe Tochter; und den Grie-
chen ſcheinen ſolche weibliche Namen, wie Leontium,
Muſarion
u. d. gl. angenehmer, als die von weib-
licher Endigung.

Das Herz findet den Ausdruk angenehm, der
etwas leidenſchaftliches hat, der zaͤrtlich, pathetiſch,
ſanft, heftig, und jeder Leidenſchaft angemeſſen iſt.

Jn Anſehung des Charakters iſt der Ausdruk
entweder niedrig, gemein, oder edel, oder groß
oder erhaben, ernſthaft oder comiſch, und ſo kann
auch der Ton ganzer Redensarten ſeyn. Von die-
ſen verſchiedenen Charakteren, die der Ausdruk bey
einerley Bedeutung annehmen kann, iſt in ſo viel
beſondern Artikeln umſtaͤndlich genug gefprochen
worden.

Der Ausdruk, der ſchon durch den bloßen Klang
einen beſondern Charakter annimmt, wird von einigen
Kunſtrichtern, der lebendige Ausdruk genennt,
und iſt auch beſonders betrachtet worden.

Ausdruk in zeichnenden Kuͤnſten. Man ſagt
von dem Zeichner, er ſey im Ausdruk ſtark, wenn
ſeine Figuren Leben, Gedanken und Empfindung zu
haben ſcheinen. Durch den Ausdruk der Zeichnung
wird der unſichtbare Geiſt ſichtbar. Dieſe erhabene
Kunſt iſt eine Erfindung der Natur. Nur dem unend-
lichen Genie war es moͤglich, der Materie Empfindung
zu geben. Dadurch wird die Mahlerey zu der wun-
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Aus
derbareſten Kunſt, weil ſie blos durch Farben jede
Empfindung der Seele rege machen kann: bloße
Schatten werden durch die Zauberey des Ausdruks
in denkende und empfindende Weſen verwandelt.
Ohne dieſe Kunſt iſt ein gemahltes und geſchnitztes
Bild eine oͤde Form, die keinem denkenden Weſen
gefallen kann; durch ſie wird es zu einem handeln-
den Weſen, mit dem wir unſer Herz theilen.

Die groͤßte Beſtrebung des zeichnenden Kuͤnſt-
lers muß auf dieſen Theil gerichtet ſeyn, ohne wel-
chen alles uͤbrige nichts iſt. Calliſtratus nennte
die Bildhauerey die Kunſt Sitten auszudruͤken, (*)(*) #.
und zeigte dadurch an, daß der Ausdruk der eigent-
liche Zwek dieſer Kunſt ſey. Nach den wuͤrklichen
Scenen des menſchlichen Lebens und deren vollkom-
menen Vorſtellung auf der Schaubuͤhne, wuͤrkt
nichts ſo ſehr auf den Geiſt, als Gemaͤhlde von
vollkommenem Ausdruk. Sie erweken in dem
Geiſt Beſtrebungen nach Vollkommenheit, und floͤßen
dem Herzen Empfindungen ein. Wie ein Juͤng-
ling durch die Kraft der Schoͤnheit zu einer Liebe
gereizt wird, die ſeine ganze Seele einnimmt, ſo
wird durch die Kraft des Ausdruks jeder empfin-
dende Menſch mit Bewunderung des Großen, mit
Liebe zum Guten, mit Abſcheu fuͤr das Boͤſe, er-
fuͤllt. Themiſtokles konnte bey dem Andenken an
die Siegeszeichen des Miltiades nicht ſchlafen, ſo
ſehr wurd dadurch ſeine Seele mit edler Ruhmbe-
gierd entflammt; wie viel mehr muß nicht ein edles
Herz empfinden, wenn nicht blos ein Zeichen der
Groͤße einer Seele, ſondern dieſe Seele ſelbſt, vors
Geſichte geſtellt wird. Kann die Tugend, die blos
als ein Schattenbild in unſrer Einbildungskraft
ſchwebet, die ſtaͤrkſte Bewunderung erweken, was
muß nicht denn geſchehen, wenn ſie in ſichtbarer
Geſtalt, und in hellem Lichte vor uns ſteht?
Wenn wir in den wuͤrklichen Scenen des Lebens
das Gluͤk haben, Menſchen in dem Augenblik zu
ſehen, da ihre Seele mit großen Empfindungen
erfuͤllt iſt, ſo gehen dieſe Scenen ſchnell vor dem
Geſichte vorbey; aber der Kuͤnſtler haͤlt dieſe koſt-
baren Augenblike fuͤr uns feſt. Unſer Aug kann
ſo lang darauf verweilen, bis es geſaͤttiget iſt, wenn
hier eine Saͤtigung ſtatt hat; wir genießen den
Gegenſtand ſo lange, bis er ſeine voͤllige Wuͤrkung
auf uns gethan hat.

Aber durch welchen Weg, durch welche Stufen
gelanget der Kuͤnſtler zu dieſem hoͤchſten Gipfel

der
Erſter Theil. O
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[105/0117] Aus Aus das Wort porca eine Annehmlichkeit habe, die das porco nicht haͤtte. Der Grund liegt ohne Zweifel darin, daß das weibliche Geſchlecht der Woͤrter bisweilen auch etwas ſanfteres in der Einbildungs- kraft erwekt, als das maͤnnliche. Daher wird gewiß in allen Faͤllen, wo die Woͤrter Reh, Hirſch, Hindin der Bedeutung nach gleichguͤltig waͤren, das lezte angenehmer ſeyn, als die andern. Die- ſes hat auch ein Scholiaſt uͤber folgende Stelle des Horaz angemerkt: Nunc et in umbroſis fauno decet immolare lucis Seu poſcat agna ſeu malit haedo. (*) Wo er uͤber das Wort Agna ſagt: Neſcio quomo- do quaedam elocutiones per foemininum genus gratiores fiunt. Hieher gehoͤrt auch, daß die Griechen, ſo wie auch die Deutſchen, bisweilen in dem unbeſtimmten Geſchlecht weiblicher Namen, eine Annehmlichkeit finden. Dem Deutſchen iſt der Ausdruk; das ſchoͤne Kind, das liebe Maͤdchen, angenehmer als dieſe: die ſchoͤne Perſon, die liebe Tochter; und den Grie- chen ſcheinen ſolche weibliche Namen, wie Leontium, Muſarion u. d. gl. angenehmer, als die von weib- licher Endigung. Das Herz findet den Ausdruk angenehm, der etwas leidenſchaftliches hat, der zaͤrtlich, pathetiſch, ſanft, heftig, und jeder Leidenſchaft angemeſſen iſt. Jn Anſehung des Charakters iſt der Ausdruk entweder niedrig, gemein, oder edel, oder groß oder erhaben, ernſthaft oder comiſch, und ſo kann auch der Ton ganzer Redensarten ſeyn. Von die- ſen verſchiedenen Charakteren, die der Ausdruk bey einerley Bedeutung annehmen kann, iſt in ſo viel beſondern Artikeln umſtaͤndlich genug gefprochen worden. Der Ausdruk, der ſchon durch den bloßen Klang einen beſondern Charakter annimmt, wird von einigen Kunſtrichtern, der lebendige Ausdruk genennt, und iſt auch beſonders betrachtet worden. Ausdruk in zeichnenden Kuͤnſten. Man ſagt von dem Zeichner, er ſey im Ausdruk ſtark, wenn ſeine Figuren Leben, Gedanken und Empfindung zu haben ſcheinen. Durch den Ausdruk der Zeichnung wird der unſichtbare Geiſt ſichtbar. Dieſe erhabene Kunſt iſt eine Erfindung der Natur. Nur dem unend- lichen Genie war es moͤglich, der Materie Empfindung zu geben. Dadurch wird die Mahlerey zu der wun- derbareſten Kunſt, weil ſie blos durch Farben jede Empfindung der Seele rege machen kann: bloße Schatten werden durch die Zauberey des Ausdruks in denkende und empfindende Weſen verwandelt. Ohne dieſe Kunſt iſt ein gemahltes und geſchnitztes Bild eine oͤde Form, die keinem denkenden Weſen gefallen kann; durch ſie wird es zu einem handeln- den Weſen, mit dem wir unſer Herz theilen. Die groͤßte Beſtrebung des zeichnenden Kuͤnſt- lers muß auf dieſen Theil gerichtet ſeyn, ohne wel- chen alles uͤbrige nichts iſt. Calliſtratus nennte die Bildhauerey die Kunſt Sitten auszudruͤken, (*) und zeigte dadurch an, daß der Ausdruk der eigent- liche Zwek dieſer Kunſt ſey. Nach den wuͤrklichen Scenen des menſchlichen Lebens und deren vollkom- menen Vorſtellung auf der Schaubuͤhne, wuͤrkt nichts ſo ſehr auf den Geiſt, als Gemaͤhlde von vollkommenem Ausdruk. Sie erweken in dem Geiſt Beſtrebungen nach Vollkommenheit, und floͤßen dem Herzen Empfindungen ein. Wie ein Juͤng- ling durch die Kraft der Schoͤnheit zu einer Liebe gereizt wird, die ſeine ganze Seele einnimmt, ſo wird durch die Kraft des Ausdruks jeder empfin- dende Menſch mit Bewunderung des Großen, mit Liebe zum Guten, mit Abſcheu fuͤr das Boͤſe, er- fuͤllt. Themiſtokles konnte bey dem Andenken an die Siegeszeichen des Miltiades nicht ſchlafen, ſo ſehr wurd dadurch ſeine Seele mit edler Ruhmbe- gierd entflammt; wie viel mehr muß nicht ein edles Herz empfinden, wenn nicht blos ein Zeichen der Groͤße einer Seele, ſondern dieſe Seele ſelbſt, vors Geſichte geſtellt wird. Kann die Tugend, die blos als ein Schattenbild in unſrer Einbildungskraft ſchwebet, die ſtaͤrkſte Bewunderung erweken, was muß nicht denn geſchehen, wenn ſie in ſichtbarer Geſtalt, und in hellem Lichte vor uns ſteht? Wenn wir in den wuͤrklichen Scenen des Lebens das Gluͤk haben, Menſchen in dem Augenblik zu ſehen, da ihre Seele mit großen Empfindungen erfuͤllt iſt, ſo gehen dieſe Scenen ſchnell vor dem Geſichte vorbey; aber der Kuͤnſtler haͤlt dieſe koſt- baren Augenblike fuͤr uns feſt. Unſer Aug kann ſo lang darauf verweilen, bis es geſaͤttiget iſt, wenn hier eine Saͤtigung ſtatt hat; wir genießen den Gegenſtand ſo lange, bis er ſeine voͤllige Wuͤrkung auf uns gethan hat. (*) #. Aber durch welchen Weg, durch welche Stufen gelanget der Kuͤnſtler zu dieſem hoͤchſten Gipfel der Erſter Theil. O

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/117>, abgerufen am 28.04.2024.