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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Aus
besondere, wodurch die Leidenschaften sich auf den
Gesichtern und in der Haltung des Körpers unter-
scheiden, ausführlich angemerkt haben. Wenn
er Le Brüns nach allen Leidenschaften charakteri-
sirte Köpfe fleißig betrachtet und zeichnet, so wird
sein Augenmaaß dabey gewinnen. Er wird lernen,
worauf er bey jedem Affekte vorzüglich zu sehen ha-
be; welche Leidenschaft sich vornehmlich im Auge,
welche in dem Munde sich äußert Er muß sich
die Bemerkungen der Meister über den Einfluß der-
selben auf die Stellung und Bewegung der Glied-
maaßen bekannt machen. Die Glieder unsers Kör-
pers besitzen eine Art der Sprache. Alle Glied-
maaßen helfen dem Redner sprechen; von den Hän-
den kann man bey nahe sagen, daß sie selbst spre-
chen. Können wir nicht, sagt ein Kunstrichter,
mit den Händen fodern, versprechen, rufen, ver-
abscheuen, fürchten, fragen, leugnen oder weigern,
Freude und Traurigkeit, Zweifel, Bekenntniß, Neue,
Maaß und Ziel, Ueberfluß, Zeit und Zahl andeu-
(*) S. Iu-
nius de pi-
ctura Vete-
rum L. III.
c.
4.
ten. (*) Auch einzele Muskeln des Rumpfs, be-
sonders die an der Brust und an dem Unterleibe
sind, haben ihren eigenen Ausdruk.

Alles dieses genau zu beobachten, muß des
Künstlers unabläßliches Studium seyn. Er muß
zu dem Ende keine Gelegenheit vorbey lassen, bey
den Auftritten des Lebens zu seyn, wo sich die Lei-
denschaften der Menschen am meisten äußern;
Auftritte, wo ein ganzes Volk sich versammelt; wo
er Frende, Furcht, Schreken, Andacht, in tausend
Gesichtern und Stellungen sehen kann.

Mit dieser Beobachtung der Natur verbinde er
das Studium der Antiken, wo der Ausdruk am
vollkommensten erreicht, und auch in den schlech-
testen Stüken nicht ganz versäumt ist. Jn den Wer-
ken der Neuern müssen des Michel Angelo, und
fürnehmlich Raphaels, beste Werke ihm täglich vor
Augen schweben. Diese Werke sind durch die tief-
sinnigsten Beobachtungen großer Geister zu der
Vollkommenheit gestiegen, die wir an ihnen bewun-
dern; sie studiren, erleichtert den Weg zu eben dieser
Vollkommenheit. Auch Deutschland kann auf ei-
nen Mann stolz seyn, der im guten Ausdruke als
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Aus
ein Anführer kann gebraucht werden. Dieser ist
Schlüter, dessen Verdienste so wenig bekannt sind,
und dessen Werke nur Berlin besitzt. [Spaltenumbruch] (+)

Ausdruk in der Schauspielkunst. Das Stu-
dium des vollkommenen Ausdruks hat so wol der
Schauspieler als der Tänzer mit dem zeichnenden
und bildenden Künstler gemein. Gewissermaaßen
ist es jenen noch nothwendiger, weil ihre ganze
Kunst darin besteht. Ein Tänzer ohne Ausdruk
ist ein bloßer Luftspringer; und ein Schauspieler,
dem er fehlt, ist gar nichts. Er verdirbt alles Gu-
te, was der Dichter ihm in den Mund legt, und
beleidiget, an statt zu ergötzen oder zu reizen. Was
also vorher über das Studium des Ausdruks und
über die Betrachtung der Natur und der Kunst ge-
sagt worden, wollen wir diesen mit dem vorzüglich-
sten Nachdruk gesagt haben. Er muß jede Em-
pfindung in sich zu fühlen im Stande seyn; kein
bedeutender Blik, kein kräftiger Zug des Gesichts,
keine Gebehrde, nicht die geringste Bewegung der
Gliedmaaßen, die er an andern wahrnehmen kann,
muß ihm unbemerkt vorüber gehen. Alles, was
er zum Behuf des Ausdruks in der Natur und
Kunst entdeken kann, muß er seiner Einbildungs-
kraft tief einprägen, und durch unermüdete Uebung
nachzuahmen trachten.

Das vorzüglichste Mittel zu einem vollkomme-
nen Ausdruk scheint dieses zu seyn, daß der Schau-
spieler sich selbst so stark, als möglich ist, in die Em-
pfindung der Personen setze, welche er vorstellt.
Der jüngere Riccoboni aber widerspricht diesem,
und nennt es einen glänzenden Jrrthum. Jch ha-
be, sagt er, allezeit als was gewisses angenommen,
daß man, wenn man das Unglük hat, das was
man ausdrukt, würklich zu empfinden, außer Stand
gesetzt wird, zu spielen.
(*) Ganz anders dachte(*) S. die
Schau-
spielkunst
in Leßings
Beyträgen
zur Historie
des Thea-
ters im 1.
Th. S.
506.

jener alte Schauspieler, der in der Elektra des So-
phokles die Asche seines Sohnes in der Urne hatte,
um den Schmerz dieser Prinzeßin, da man ihr die
Gebeine des Orestes bringt, desto vollkommener aus-
zudrüken. Der angeführte französische Schau-
spieler muß dafür halten, daß man durch deutlich
bestimmte Regeln alles nachmachen könne. Es

scheinet
(+) Ein verdienstvoller berlinischer Künstler, Herr Bern-
hard Rode,
hat mit rühmlichem Eifer sein möglichstes
gethan, diesen großen Mann bekannter zu machen. Er
hat so wol seine Larven, die das berlinische Zeughaus zie-
[Spaltenumbruch] ren, als verschiedene andre Werke auf eine geistreiche Art
geäzt. Möchte er doch fortfahren, auch die übrigen grös-
sern Werke dieses fürtrefflichen Mannes bekannter zu ma-
chen!
O 2

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Aus
beſondere, wodurch die Leidenſchaften ſich auf den
Geſichtern und in der Haltung des Koͤrpers unter-
ſcheiden, ausfuͤhrlich angemerkt haben. Wenn
er Le Bruͤns nach allen Leidenſchaften charakteri-
ſirte Koͤpfe fleißig betrachtet und zeichnet, ſo wird
ſein Augenmaaß dabey gewinnen. Er wird lernen,
worauf er bey jedem Affekte vorzuͤglich zu ſehen ha-
be; welche Leidenſchaft ſich vornehmlich im Auge,
welche in dem Munde ſich aͤußert Er muß ſich
die Bemerkungen der Meiſter uͤber den Einfluß der-
ſelben auf die Stellung und Bewegung der Glied-
maaßen bekannt machen. Die Glieder unſers Koͤr-
pers beſitzen eine Art der Sprache. Alle Glied-
maaßen helfen dem Redner ſprechen; von den Haͤn-
den kann man bey nahe ſagen, daß ſie ſelbſt ſpre-
chen. Koͤnnen wir nicht, ſagt ein Kunſtrichter,
mit den Haͤnden fodern, verſprechen, rufen, ver-
abſcheuen, fuͤrchten, fragen, leugnen oder weigern,
Freude und Traurigkeit, Zweifel, Bekenntniß, Neue,
Maaß und Ziel, Ueberfluß, Zeit und Zahl andeu-
(*) S. Iu-
nius de pi-
ctura Vete-
rum L. III.
c.
4.
ten. (*) Auch einzele Muskeln des Rumpfs, be-
ſonders die an der Bruſt und an dem Unterleibe
ſind, haben ihren eigenen Ausdruk.

Alles dieſes genau zu beobachten, muß des
Kuͤnſtlers unablaͤßliches Studium ſeyn. Er muß
zu dem Ende keine Gelegenheit vorbey laſſen, bey
den Auftritten des Lebens zu ſeyn, wo ſich die Lei-
denſchaften der Menſchen am meiſten aͤußern;
Auftritte, wo ein ganzes Volk ſich verſammelt; wo
er Frende, Furcht, Schreken, Andacht, in tauſend
Geſichtern und Stellungen ſehen kann.

Mit dieſer Beobachtung der Natur verbinde er
das Studium der Antiken, wo der Ausdruk am
vollkommenſten erreicht, und auch in den ſchlech-
teſten Stuͤken nicht ganz verſaͤumt iſt. Jn den Wer-
ken der Neuern muͤſſen des Michel Angelo, und
fuͤrnehmlich Raphaels, beſte Werke ihm taͤglich vor
Augen ſchweben. Dieſe Werke ſind durch die tief-
ſinnigſten Beobachtungen großer Geiſter zu der
Vollkommenheit geſtiegen, die wir an ihnen bewun-
dern; ſie ſtudiren, erleichtert den Weg zu eben dieſer
Vollkommenheit. Auch Deutſchland kann auf ei-
nen Mann ſtolz ſeyn, der im guten Ausdruke als
[Spaltenumbruch]

Aus
ein Anfuͤhrer kann gebraucht werden. Dieſer iſt
Schluͤter, deſſen Verdienſte ſo wenig bekannt ſind,
und deſſen Werke nur Berlin beſitzt. [Spaltenumbruch] (†)

Ausdruk in der Schauſpielkunſt. Das Stu-
dium des vollkommenen Ausdruks hat ſo wol der
Schauſpieler als der Taͤnzer mit dem zeichnenden
und bildenden Kuͤnſtler gemein. Gewiſſermaaßen
iſt es jenen noch nothwendiger, weil ihre ganze
Kunſt darin beſteht. Ein Taͤnzer ohne Ausdruk
iſt ein bloßer Luftſpringer; und ein Schauſpieler,
dem er fehlt, iſt gar nichts. Er verdirbt alles Gu-
te, was der Dichter ihm in den Mund legt, und
beleidiget, an ſtatt zu ergoͤtzen oder zu reizen. Was
alſo vorher uͤber das Studium des Ausdruks und
uͤber die Betrachtung der Natur und der Kunſt ge-
ſagt worden, wollen wir dieſen mit dem vorzuͤglich-
ſten Nachdruk geſagt haben. Er muß jede Em-
pfindung in ſich zu fuͤhlen im Stande ſeyn; kein
bedeutender Blik, kein kraͤftiger Zug des Geſichts,
keine Gebehrde, nicht die geringſte Bewegung der
Gliedmaaßen, die er an andern wahrnehmen kann,
muß ihm unbemerkt voruͤber gehen. Alles, was
er zum Behuf des Ausdruks in der Natur und
Kunſt entdeken kann, muß er ſeiner Einbildungs-
kraft tief einpraͤgen, und durch unermuͤdete Uebung
nachzuahmen trachten.

Das vorzuͤglichſte Mittel zu einem vollkomme-
nen Ausdruk ſcheint dieſes zu ſeyn, daß der Schau-
ſpieler ſich ſelbſt ſo ſtark, als moͤglich iſt, in die Em-
pfindung der Perſonen ſetze, welche er vorſtellt.
Der juͤngere Riccoboni aber widerſpricht dieſem,
und nennt es einen glaͤnzenden Jrrthum. Jch ha-
be, ſagt er, allezeit als was gewiſſes angenommen,
daß man, wenn man das Ungluͤk hat, das was
man ausdrukt, wuͤrklich zu empfinden, außer Stand
geſetzt wird, zu ſpielen.
(*) Ganz anders dachte(*) S. die
Schau-
ſpielkunſt
in Leßings
Beytraͤgen
zur Hiſtorie
des Thea-
ters im 1.
Th. S.
506.

jener alte Schauſpieler, der in der Elektra des So-
phokles die Aſche ſeines Sohnes in der Urne hatte,
um den Schmerz dieſer Prinzeßin, da man ihr die
Gebeine des Oreſtes bringt, deſto vollkommener aus-
zudruͤken. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schau-
ſpieler muß dafuͤr halten, daß man durch deutlich
beſtimmte Regeln alles nachmachen koͤnne. Es

ſcheinet
(†) Ein verdienſtvoller berliniſcher Kuͤnſtler, Herr Bern-
hard Rode,
hat mit ruͤhmlichem Eifer ſein moͤglichſtes
gethan, dieſen großen Mann bekannter zu machen. Er
hat ſo wol ſeine Larven, die das berliniſche Zeughaus zie-
[Spaltenumbruch] ren, als verſchiedene andre Werke auf eine geiſtreiche Art
geaͤzt. Moͤchte er doch fortfahren, auch die uͤbrigen groͤſ-
ſern Werke dieſes fuͤrtrefflichen Mannes bekannter zu ma-
chen!
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[107/0119] Aus Aus beſondere, wodurch die Leidenſchaften ſich auf den Geſichtern und in der Haltung des Koͤrpers unter- ſcheiden, ausfuͤhrlich angemerkt haben. Wenn er Le Bruͤns nach allen Leidenſchaften charakteri- ſirte Koͤpfe fleißig betrachtet und zeichnet, ſo wird ſein Augenmaaß dabey gewinnen. Er wird lernen, worauf er bey jedem Affekte vorzuͤglich zu ſehen ha- be; welche Leidenſchaft ſich vornehmlich im Auge, welche in dem Munde ſich aͤußert Er muß ſich die Bemerkungen der Meiſter uͤber den Einfluß der- ſelben auf die Stellung und Bewegung der Glied- maaßen bekannt machen. Die Glieder unſers Koͤr- pers beſitzen eine Art der Sprache. Alle Glied- maaßen helfen dem Redner ſprechen; von den Haͤn- den kann man bey nahe ſagen, daß ſie ſelbſt ſpre- chen. Koͤnnen wir nicht, ſagt ein Kunſtrichter, mit den Haͤnden fodern, verſprechen, rufen, ver- abſcheuen, fuͤrchten, fragen, leugnen oder weigern, Freude und Traurigkeit, Zweifel, Bekenntniß, Neue, Maaß und Ziel, Ueberfluß, Zeit und Zahl andeu- ten. (*) Auch einzele Muskeln des Rumpfs, be- ſonders die an der Bruſt und an dem Unterleibe ſind, haben ihren eigenen Ausdruk. (*) S. Iu- nius de pi- ctura Vete- rum L. III. c. 4. Alles dieſes genau zu beobachten, muß des Kuͤnſtlers unablaͤßliches Studium ſeyn. Er muß zu dem Ende keine Gelegenheit vorbey laſſen, bey den Auftritten des Lebens zu ſeyn, wo ſich die Lei- denſchaften der Menſchen am meiſten aͤußern; Auftritte, wo ein ganzes Volk ſich verſammelt; wo er Frende, Furcht, Schreken, Andacht, in tauſend Geſichtern und Stellungen ſehen kann. Mit dieſer Beobachtung der Natur verbinde er das Studium der Antiken, wo der Ausdruk am vollkommenſten erreicht, und auch in den ſchlech- teſten Stuͤken nicht ganz verſaͤumt iſt. Jn den Wer- ken der Neuern muͤſſen des Michel Angelo, und fuͤrnehmlich Raphaels, beſte Werke ihm taͤglich vor Augen ſchweben. Dieſe Werke ſind durch die tief- ſinnigſten Beobachtungen großer Geiſter zu der Vollkommenheit geſtiegen, die wir an ihnen bewun- dern; ſie ſtudiren, erleichtert den Weg zu eben dieſer Vollkommenheit. Auch Deutſchland kann auf ei- nen Mann ſtolz ſeyn, der im guten Ausdruke als ein Anfuͤhrer kann gebraucht werden. Dieſer iſt Schluͤter, deſſen Verdienſte ſo wenig bekannt ſind, und deſſen Werke nur Berlin beſitzt. (†) Ausdruk in der Schauſpielkunſt. Das Stu- dium des vollkommenen Ausdruks hat ſo wol der Schauſpieler als der Taͤnzer mit dem zeichnenden und bildenden Kuͤnſtler gemein. Gewiſſermaaßen iſt es jenen noch nothwendiger, weil ihre ganze Kunſt darin beſteht. Ein Taͤnzer ohne Ausdruk iſt ein bloßer Luftſpringer; und ein Schauſpieler, dem er fehlt, iſt gar nichts. Er verdirbt alles Gu- te, was der Dichter ihm in den Mund legt, und beleidiget, an ſtatt zu ergoͤtzen oder zu reizen. Was alſo vorher uͤber das Studium des Ausdruks und uͤber die Betrachtung der Natur und der Kunſt ge- ſagt worden, wollen wir dieſen mit dem vorzuͤglich- ſten Nachdruk geſagt haben. Er muß jede Em- pfindung in ſich zu fuͤhlen im Stande ſeyn; kein bedeutender Blik, kein kraͤftiger Zug des Geſichts, keine Gebehrde, nicht die geringſte Bewegung der Gliedmaaßen, die er an andern wahrnehmen kann, muß ihm unbemerkt voruͤber gehen. Alles, was er zum Behuf des Ausdruks in der Natur und Kunſt entdeken kann, muß er ſeiner Einbildungs- kraft tief einpraͤgen, und durch unermuͤdete Uebung nachzuahmen trachten. Das vorzuͤglichſte Mittel zu einem vollkomme- nen Ausdruk ſcheint dieſes zu ſeyn, daß der Schau- ſpieler ſich ſelbſt ſo ſtark, als moͤglich iſt, in die Em- pfindung der Perſonen ſetze, welche er vorſtellt. Der juͤngere Riccoboni aber widerſpricht dieſem, und nennt es einen glaͤnzenden Jrrthum. Jch ha- be, ſagt er, allezeit als was gewiſſes angenommen, daß man, wenn man das Ungluͤk hat, das was man ausdrukt, wuͤrklich zu empfinden, außer Stand geſetzt wird, zu ſpielen. (*) Ganz anders dachte jener alte Schauſpieler, der in der Elektra des So- phokles die Aſche ſeines Sohnes in der Urne hatte, um den Schmerz dieſer Prinzeßin, da man ihr die Gebeine des Oreſtes bringt, deſto vollkommener aus- zudruͤken. Der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schau- ſpieler muß dafuͤr halten, daß man durch deutlich beſtimmte Regeln alles nachmachen koͤnne. Es ſcheinet (*) S. die Schau- ſpielkunſt in Leßings Beytraͤgen zur Hiſtorie des Thea- ters im 1. Th. S. 506. (†) Ein verdienſtvoller berliniſcher Kuͤnſtler, Herr Bern- hard Rode, hat mit ruͤhmlichem Eifer ſein moͤglichſtes gethan, dieſen großen Mann bekannter zu machen. Er hat ſo wol ſeine Larven, die das berliniſche Zeughaus zie- ren, als verſchiedene andre Werke auf eine geiſtreiche Art geaͤzt. Moͤchte er doch fortfahren, auch die uͤbrigen groͤſ- ſern Werke dieſes fuͤrtrefflichen Mannes bekannter zu ma- chen! O 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/119>, abgerufen am 28.04.2024.